Stefanitag 2015

Linz Hauptplatz- Grünbergalm

87 Kilometer für die Ewigkeit

Von Gabriel Egger

 

 

 

[….Warum laufe ich hier eigentlich noch? Tu’ ich das wirklich noch für mich? Alles tut weh, die Lunge kratzt, die Kälte in den Fingern fühlt sich an wie kleine Nadelstiche. Mach ich das nur , um danach sagen zu können, dass ich es gemacht habe? Die Füße sind schwer geworden. Mein Zustand erinnert mich an alte Gefängnisfilme, in denen die Insassen eine bleierne Kugel hinter sich her schleifen. Vor mir, hinter mir, neben mir die Nacht. Sie hat längst Besitz von mir ergriffen und der Nebel fungiert als ihr Bote. Was er verkündet, will ich eigentlich gar nicht wissen. Warum laufe ich noch, wenn es mir doch gar keinen Spaß mehr macht? Für ein paar Schulterklopfer? Irgendwo da hinten muss doch die Sonne bald aufgehen. Der Horizont ist dunkel, die erlösenden Strahlen noch immer dahinter verborgen. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich muss nicht mehr. Der Kopf treibt mich weiter. Weiter auf dem harten Asphalt in Richtung Unendlichkeit….]

Zwischen angeheiterten Nachtschwärmern, die uns ungläubig beäugen  und ihren Zuspruch durch lautes Lallen kundtun, und zwischen den dumpfen Strahlen der Straßenlaternen spazieren wir durch die engen Gassen der Linzer Altstadt. Wir fühlen uns frisch, auch wenn der geplante Schlaf kurz ausfiel. Das Klirren der Flaschen neben den Lokalen lässt uns aus den verbliebenen Tagträumen erwachen. Es ist kurz nach Mitternacht und wir stehen vor einer Mammutaufgabe, die wir uns selbst gestellt haben. Vom Linzer Hauptplatz auf den Traunstein- zu Fuß. Es soll der Abschluss eines fantastisch-wirren Jahres werden. Ein paar Höhenmeter mehr auf dem Berg der abstrusen Ideen.

Die Sterne funkeln über der Pestsäule am Hauptplatz. Der befürchtete Nebel ist zumindest in Linz ausgeblieben. In unseren kleinen Rucksäcken befinden sich einige wenige Energieriegel und ein Liter Wasser. Das muss reichen, bis zur ersten Labstelle an der Traun. Moritz hat auf seinem Weg von Aurolzmünster nach Linz vier davon eingerichtet. Traun, Marchtrenk, Wels, Lambach. So nahe wie sie geschrieben nebeneinander stehen, so weit sind die Orte entfernt, wenn man sie erlaufen muss. Zugegeben, die Vorbereitung hätte besser sein können, genauso wie der Zeitpunkt. 26. Dezember, dann wenn die  die Nacht genauso lang ist wie der Tag und die Möglichkeit hat sämtliche Motivation aus dem Körper zu saugen. Herausforderungen dienen als Standortbestimmung. Kann ich, oder kann ich nicht ? Will ich, oder will ich nicht? Wie weit kann ich über die eigenen Grenzen gehen ohne mir nachhaltig zu schaden?

Ein letztes Bild mit der neuerstandenen GoPro-Kamera und der Finger, der den Knopf der GPS-Uhr auslöst, gibt das langerwartete Startzeichen. Stunden der Ungewissheit liegen vor uns. Jetzt wollen wir aber erstmal Spaß haben und den Alltag vergessen. Eintauchen in die Allnacht.

Startschuss um 00.21 Uhr

Die Blicke die uns auf dem Weg über die Landstraße treffen strahlen Verunsicherung ob der seltsamen Situation aus. Halb ein Uhr früh am zweiten Weihnachtsfeiertag. Wenn die Gans des Christtages ein letztes Mal im Magen rumort. Lächeln und Kopfschütteln begleiten uns auf unserem Weg hinaus aus der Stadt. Die Lichter des Bahnhofs leuchten einladend auf die gegenüberliegende Straßenseite. Sie scheinen uns zu ermutigen, doch den Zug nach Gmunden zu nehmen. Nichts da. Wir haben zwei gesunde Füße. Noch.

Schon auf der Salzburgerstraße in Richtung Traun hat sich ein angenehmer Trott eingestellt. Wir laufen in unserer eigenen Welt. Kilometer für Kilometer wechseln sich die Gesprächsthemen ab. Von absolutem Blödsinn bis hin zu philosophischem Tiefgang. Alles ist dabei. Wir laufen mit einer Pace von 05:30 in die Dunkelheit und steuern den Traunufer-Radweg an. Langsam aber sicher ereilt uns die Gewissheit, dass sich der Nebel doch nicht zurückgezogen hat. Er schickt uns seine Schwaden in immer kürzeren Abständen und macht die Stirnlampen zu unnötigem Ballast. Ganz ohne Licht biegen wir in den Radweg ein. Sein Asphalt wird neben der Nacht zum ständigen Begleiter. Noch überwiegen die positiven Gedanken, auch wenn sich die feuchte Nacht schon auf unserer Kleidung bemerkbar macht. Die Tropfen, die von den Laufjacken perlen sind eine Warnung, die wir ignorieren.

Nach sechzehn Kilometern können wir auf die erste Labstelle zurückgreifen. Nur kurz abbiegen vom Radweg, hinauf zu einer Brücke. Das kalte Cola rinnt die trockenen Kehlen hinab, die Kohlensäure sorgt für geplagte Mimik. Zwei Müsliriegel später machen wir uns bereit den nächsten Streckenabschnitt in Angriff zu nehmen. Wir denken nur mehr in Labstellen. Von der einen zur anderen. Zu groß ist die Angst sonst den Faden zu verlieren und die Motivation in der Traun zu ertränken. Marchtrenk nennt sich der nächste Rettungsanker. Musik begleitet uns auf der Reise dorthin. Jeder erlebt die Nacht für sich. Nur der Atem des Partners, den er in die klirrend kalte Nacht stößt, erinnert an Gemeinsamkeit. Die Lunge beginnt sich zu beschweren, immer wieder husten wir auf ihren Befehl. Es ist 02.00 Uhr früh. Der abnehmende Vollmond leuchtet auf uns hinab, der Nebel hat wieder einen Blick auf ihn freigegeben. Wir passieren ein Kraftwerk und queren eine Bundesstraße. Als wir uns bei der zweiten Labe niederlassen, fahren zwei Radfahrer vorbei. Situationskomik kurz vor Marchtrenk. “Was zum Teufel machen die Radfahrer..:” setze ich an und besinne mich. “Ach ja, wir sind ja auch hier.” 

Die Kälte kriecht in die nassgeschwitzte Kleidung, während wir den Zucker aus dem Cola schlürfen. Wie schön es hier wohl im Sommer wäre. In einer lauen Nacht, bei Sternenhimmel. In zwei Stunden würde es dämmern, die Vögel würden den nächsten Tag einzwitschern. Das Hupen eines Autos lässt mich wieder in der Realität landen. Ich zittere. “Komm wir müssen weiter” Moritz nickt still.

Wels. Nur nach Wels. Elf Kilometer. Wir sprechen wieder miteinander, reflektieren über das wunderbare Jahr, über unsere nicht alltägliche Freundschaft zwischen Felswänden und Trailschuhen. Wir sind stolz und demütig zugleich. So muss es weitergehen. Ein Leben in Freiheit, auch wenn wir sie uns selbst erschaffen müssen.

Durch Wels bei Nacht, Foto: Michael Smolka

Kurz vor Wels ist der Radweg gesperrt. Ein Zaun lädt zu einer kurzen Kletterei ein. Nach mehr als 30 Kilometern wohl Schwierigkeitsgrad III. Gerade noch ohne Seil machbar, dafür auch wenig ausgesetzt. Die Umleitung würde weitere Kilometer bedeuten. Wir fühlen uns wie in der Schule. Eine Zusatzaufgabe würde uns zwar weiterbringen, ist aber ein unangenehmer Zeitaufwand. Also nein. Lieber in der letzten Reihe schwätzen.

Kilometer 36. Wels ist erreicht. Eine Bushaltestelle wird zur Pausenbank umfunktioniert. Ich wechsle die Bekleidung, alles ist nass. Das Herz rast, die Augen sind müde vom Schwarz der Nacht. Moritz fühlt sich nicht gut. “Pausieren wir länger, wir haben Zeit” sage ich. Moritz ist ebenso der Meinung, dass wir nicht auf Schnelligkeit aus sind. Ankommen ist wichtig. Gesund ankommen.

4 Stunden und eine Minute zeigt die Uhr an, als die magische Grenze von 42.195 Kilometern erreicht ist. Die tosende Menge im Zielbereich ist heute ein Bauernhof, das Klatschen der Gestank von Dünger. Irgendwo zwischen Wels und Lambach legen wir uns auf die Straße. Moritz ist kurz davor einzuschlafen. “Denkst du ans Aufgeben?” frage ich ihn. “Denken schon.” sagt er und schaut mich blinzelnd an: “Aber ich werds nicht tun”. Die Knie zittern. Wir schalten die Stirnlampe ein, um der Müdigkeit entgegenzuwirken. Wir sind noch immer weit entfernt vom Sonnenaufgang. Entgegen aller Vernunft bleiben wir in der Kälte liegen. Ein Marathon liegt hinter uns. Ein zweiter muss folgen. 

 

Ain’t nothin’ gonna break my stride



I’m running and I won’t touch ground



Oh-no, I got to keep on movin’



Die Zeilen von Matthew Wilder bringen mich wieder in eine aufrechte Position. Wir laufen durch bis Lambach, dann dürfen wir wieder pausieren. Die Lunge vibriert. Es ist so kalt geworden, dass die Zweifel beginnen die Motivation zu überholen. Lambach ist erreicht. Mehr schlecht als recht. Kalter Wind frischt auf und trifft gefühlt ohne Widerstand auf die blanken Knochen.

Wir beschließen einen Umweg zu nehmen, laufen direkt in den Ort. Nichts hat geöffnet. Keine Bäckerei, kein Lokal, keine Bahnhofsmission. Eine Bank wird zum Zufluchtsort. Nicht um Geld für den Zug retour abzuheben, sondern um uns kurz aufzuwärmen. Wir legen uns mitten in die Filiale und schließen die Augen. So muss sich Dagobert Duck fühlen, wenn er seinen Glückszehner verloren hat. Bitte lass doch endlich die Sonne aufgehen.

Nach einer halben Stunde stehen wir wieder in der Dunkelheit. Die Traun plätschert unschuldig dahin, ganz so als hätte an ihrem Ufer nie jemand die Kraft verloren. Wir laufen seit knapp 6 Stunden, bald sind es 60 Kilometer. Die Energie schwindet kontinuierlich. Bis zur Seilbahn beim Grünberg in Gmunden haben wir keine Labstelle mehr.

Wir laufen an einem Gasthaus vorbei, die Sonne geht endlich auf. Sie berührt unsere Gesichter, kann unsere Gehirne aber nicht aufwecken. Vielleicht kann es ein Frühstück. Kurz vor Laakirchen kehren wir ein. 06:20min Laufzeit. 61,3 Kilometer. 300 Höhenmeter. 1 Stunde Pause.

Frühstück kurz vor Laakirchen. No Pain, no Gain. 

Wir erholen uns gut. Gespräche überwinden die Grenzen der Belastbarkeit. Kaffee erhellt den Geist, Marmelade bringt den Zuckerhaushalt in Ordnung. Nur noch 20 Kilometer bis nach Gmunden. Wie schön sich das anhört.

Moritz will nicht mehr am Radweg bleiben. Die Monotonie hat ihm Nerven gekostet. “Wir machen das jetzt anders” sagt er, als er ein großes Getreidefeld ansteuert. Zuerst sind wir statt auf dem Radweg 4 plötzlich auf dem Radweg 6 gelandet, haben Schwanenstadt statt Laakirchen angesteuert. Kilometer, die sich der Kampfzwerg zurückholen möchte. Die Sonne scheint vom wolkenlosen Himmel, der Traunstein glänzt wie immer in ihrem Licht. Mit jedem Schritt in seine Richtung wirkt er noch ästhetischer. Wir laufen über Felder, der Dreck haftet sich an unsere Sohlen. Wieder ist es die bleierne Kugel, die mir in den Sinn kommt.

Mittlerweile können wir viele Abschnitte nur noch gehend bewältigen. Jeder Laufschritt ist eine Überwindung. Der Körper will nicht mehr, der Geist treibt ihn voran. Wir sind fokussiert. Fokussiert auf das Ende unserer langen Reise, aber auch auf jedes Schlupfloch. Feld für Feld kürzen wir ab. Vermeintlich. Nach 30 Minuten ländlicher Umgebung folgt die Ernüchterung. Wir sind wieder auf dem Radweg gelandet. Google Maps weist uns die Richtung. Wir wollen ihn nicht mehr, den R4. Kälte, Dunkelheit, Verzweiflung, Müdigkeit. Die vier Tugenden des Radwegs 4. Aber auch Motivation, Leidenschaft, Wille und Überwindung.

Noch elf Kilometer bis nach Gmunden. Wir legen uns nocheinmal ins Gras. Die Wärme kehrt endgültig zurück.

Ein letztes Mal liegen vor Gmunden
“Lass es doch aufhören”

Wir raffen uns ein letztes Mal auf. Der Traunstein ist gedanklich in weite Ferne gerückt. Wir wissen, dass dazu heute ein kleines Wunder nötig ist. Noch dazu über das Hochkamp und die Grüne Gasse. Mit diesen ausgelaugten Beinen. Klingt nicht verlockend.

Durch Waldabschnitte erreichen wir die Laufstrecke des Toskanalaufes. Jetzt wissen wir, dass Rettung naht. Gmunden ist in greifbarer Nähe. Wir versuchen uns aufzubäumen, gegen die Müdigkeit aufzulehnen,  zu witzeln, durchzuschnaufen.

Da wär’ er, der Traunstein

Der Rathausplatz leuchtet in den Sonnenstrahlen. Emsiges Treiben begleitet unsere schweren Schritte, viele Touristen genießen das Gastgartenwetter. Wir wirken wie zwei Fremdkörper zwischen all den gutaussehenden Menschen. Zwei dahinvegetierende stinkende Sportler, die sich mit voller Hose dem Grünberg nähern. Der Aufstieg über den steilen Ortnersteig zieht an mir vorbei. Er verliert sich zwischen den Baumwipfeln und der steilen Skipiste. Grüßende Wanderer müssen unsere Unhöflichkeit ertragen. Obwohl man doch zum Abschied leise “Servus” sagen sollte. Der Aufstieg zur Grünbergalm ist ein Abschied. Ein “Lebe wohl” an unseren Plan den Traunstein zu erreichen. Wir haben uns geeinigt nicht mehr weiterzugehen. Zu groß ist das Risiko unachtsam zu werden. Gmunden sehen und sterben. Nein danke.

Das Gras bei der Grünbergalm fühlt sich gut an, wie ein großes, unendliches Bett mit weichen Federn. Wir bleiben nicht lange. Bevor wir einschlafen bewegen wir uns statisch zurück zum Rathausplatz, wo unser Freund Hans auf uns wartet. Unser Sherpa in guten und schlechten Zeiten. Heute sind es trotz des Scheiterns gute Zeiten. Wir sind nicht unzufrieden. Wir haben unsere Grenzen überschritten, haben uns immer wieder aufgerichtet, uns trotz aller Querelen nicht aufgegeben. Wir haben etwas über uns gelernt und genau dafür sind diese Extremsportprojekte gut. Nicht um aufzufallen oder die Like-Zahl unserer Facebook-Seite in die Höhe zu treiben.  Jetzt weiß ich wieder, warum ich all diese Schmerzen ertrage, warum ich weitergelaufen bin. Der Kreis schließt sich, auch wenn er eine kleine Lücke aufzuweisen hat.

Der sehnsüchtige Blick auf den Traunstein tut nicht weh. Die meckernden Schwäne übernehmen unsere Aufgabe. Wir meckern nicht, wir sind heilfroh hier gesund zu sitzen und die wärmenden Strahlen auf den Beinen zu spüren.  Nach 87 Kilometern, 1.000 Höhenmetern, zehneinhalb Stunden und einer langen kalten Nacht.

Ausspannen am Rathausplatz

Die Sohle meiner Laufschuhe löst sich genauso wie der Druck von meinem Körper. Es ist vorbei. “Nächstes Mal können wir ruhig wieder mit dem Auto fahren um den Grünberg zu besteigen” sagt Moritz und lacht. “Bisserl langer Zustieg” antworte ich, während ich das klare Wasser des Traunsees bestaune.

Man kann nicht alles schaffen im Leben. Aber man kann es probieren.

Als ich ein paar Tage später wieder auf dem Linzer Hauptplatz stehe, ruft mich ein Freund an, ob ich nicht Lust auf den Traunstein hätte. Ich muss lachen. “Ja, sind eh nur noch 87 Kilometer bis auf den Grünberg. Morgen bin ich da”. 

Das war’s!

Den offiziellen Bericht der Oberösterreichischen Nachrichten gibt es hier nachzulesen:

NON-STOP LAUF VOM LINZER HAUPTPLATZ AUF DEN GRÜNBERGGIPFEL AM TRAUNSEE