Rund um’s Salzkammergut: der zweite Tag
Unterwegs am Berge-Seen-Trail 

Steinbach am Attersee- Eisenaueralm- Schafberg- Krottensee- Almkogel- Fuschl am See- Filbling- Faistenau- Hintersee

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Text von Gabriel Egger
Fotos von Gabriel Egger und Christoph Kainrath



Irgendwann wird es passieren. Jetzt, in diesem Augenblick, oder in den nächsten Sekunden. Vielleicht gibt uns der da oben sogar noch mehr Zeit. Ein paar Minuten. Aber dann, da bin ich sicher, verschmelzen wir mit dem Asphalt unter uns. Dann gibt das Trottoir, mit dem Heizstrahler, der da unten eingebaut sein muss, nach und wir versinken darin. Und alles ist vorbei. Am zweiten Tag. Ertrunken im Beton, obwohl eine Bergtour doch ohne auskommen sollte.  Wir gehen in dem selben Material unter, aus dem unsere Füße sind. Bei jedem Schritt folgt uns die bleierne Kugel, die uns irgendein schadenfroher Einheimischer zwischen Faistenau und Hintersee an den Knöchel gebunden haben muss. Wie zwei Gefangene, die bei einem undurchdachten Ausbruchsversuch geschnappt wurden und wieder auf dem Weg in ihre Zelle sind.

Auch der Blick zurück offenbart nur wenig Gutes, obwohl doch in der Vergangenheit alles besser gewesen sein soll. Christoph, gestützt auf seine Stöcke, zwinkert mir zu. Was ich als Motivation verstehe, ist der Versuch den Schweiß davon abzuhalten, in die Augen hinunterzulaufen. Aber Hitzefrei gibt’s nicht, wenn man das Salzkammergut umrunden möchte.

Fast zwölf Stunden sind wir bereits unterwegs, als wir uns mit dem Tempo einer Weinbergschnecke, die vor ihrem Schicksal als französische Hauptspeise flüchten will, nach Hintersee schleppen. Wir geben alles, können aber nicht schneller. Das Ortsschild, das wir vor zehn Minuten passiert haben, muss eine Fata Morgana gewesen sein, denn angekommen sind wir immer noch nicht.

Dabei hat alles so schön begonnen. Mit diesem umwerfenden Balkon-Blick auf den Schafberg. Umwerfend auch deshalb, weil er viel weiter weg stand, als uns lieb war.

Der Kuhflüsterer

2:1 hat Österreich am Vorabend gewonnen. Gegen Deutschland. Cordoba! Die einzige Freude, die wir haben, als wir von Steinbach am Attersee langsam Richtung Schafberg traben. Obwohl Christoph das ohnehin kalt lässt. Fußball? Pfft.  Auch das Höllengebirge, das sich bei einem kurzen Seitenblick vor uns entfaltet, kann uns nur wenig Zuversicht schenken.
Tag Zwei. Los geht’s! Von unserer Pension in Steinbach zum Schafberg. 
Diese lange Asphaltgerade, die sich nass-grau vor uns dahinzieht, erinnert mich an die Zeit, als ich mich durch Deutschrap noch zwei Köpfe größer fühlte. Ich bin kein Gangster, kein Killer, ich bin kein Dieb, ich bin nur ein Junge von der Straße! 
Sidos Soundtrack für Halbwüchsige wird uns heute noch sehr lange begleiten. Asphaltstraße, Forststraße, Bundesstraße, Landesstraße, Strade del Sole.
Nein. Du darfst nicht den Bus nehmen.
Hinter dem Höllengebirge brechen die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolken, die sich in der Nacht über den  blau-grünen Attersee geschoben haben. Und wir dürfen endlich abbiegen. Ganz ohne Blinker. Die Forststraße, die sich von der Burgau aus wie ein Bandwurm zur Eisenaueralm zieht, lockert zuerst die Muskeln und dann die Stimmung. “Geht eh schon wieder gut”, sage ich, mehr mich selbst überzeugend als euphorisch, zu Christoph, der den Boden lieber unter den Füßen hat, als über ihm  abzuheben: “Wart ab. Das waren erst ein paar Kilometer”. 
Geradeaus, lange hinunter, kurz hinauf, dann wieder hinunter. Jetzt weiß ich, wie sich das für die Hasen anfühlt, wenn man ihnen die Karotte vor die Nase bindet.
Muuuuuuh. Eine Warnung. “Du kannst nicht vorbei!”. Nur Gandalf hätte es besser sagen können. Wenn es um Kühe geht, verwandelt sich mein alpiner Mut ganz schnell in schüchterne Zurückhaltung. Die braun-weiß-gescheckerten Rindviecher  mit ihren weit aufgerissenen Augen und dem Ring in der Nase sehen auch nicht so aus, als würden sie uns freiwillig den Weg überlassen. “Hosenscheisser” . Ein Mann, ein Wort. Christoph treibt die Herde an, die sich bereitwillig zur Seite schieben lässt. Noch einmal mit dem Leben davon gekommen.
Christoph übernimmt die Herde 
Nach mehr als 16 Kilometern, aber nicht einmal 1000 Höhenmetern, erreichen wir die Eisenaueralm.  Geschafft ist außer uns noch gar nichts. Der Schafberg, mit seiner mächtigen Nordwand und dem Hotel, das sich von hier aus wie eine Fliege auf den Kopf des Berges setzt, baut sich vor uns auf. Jetzt nur noch in den Himmel. Über die Pforte aus Holz, die der Teufel zum Trotz in die Wände gerammt haben muss. So eng ist der Durchschlupf.
Endlich! Ein Entgegenkommen des Schafbergs.
Die Nordwand des Schafbergs. Christoph zeigt, wo wir in den Himmel schreiten 

Beim Anstieg zum Himmelspfortensteig muss ich kurz rasten. Hier, zwischen Tannenreisig und Nadelholz ist die Welt noch in Ordnung. Auf meinem kleinen Baumstamm, der noch vom nächtlichen Regen trieft, denke ich kurz daran, was wäre, wenn. Wenn wir jetzt aufgeben. Nur noch ein Bad im Mittersee, der wie eine grüne Pfütze unter der Nordwand liegt. “Kommst?”  Der Christoph ruft und ich muss folgen. Nein, alleine wär das Ganze nichts. Alleine schon wegen der Kühe.

Aunzopft is!

Als der Mondsee auftaucht, sind wir bereits wieder guter Dinge. Instagram-Stories haben wir denen, die nicht so viel Glück haben das Salzkammergut umrunden zu dürfen, versprochen. Richtig Lust darauf haben wir nicht. “Da stell dich auf den Sockel. Des schaut gut aus”.  Zu sehr gefällt es uns hier, um an andere zu denken.
Am Weg zur Himmelspforte
Diese Landschaft ist so einzigartig, am liebsten würde ich sie aufsaugen und nie wieder zurückgeben. Die glänzenden Seen, die schroffen Felsen, das Grün, das Grau, die Weite und Nähe. Über die endlosen Kehren des Himmelspfortensteigs, die in Schlangenlinien nach oben führen, als hätte sie ein Betrunkener entworfen, steigen wir dem Gipfel entgegen. Am Schluss noch über die Siegertreppe und wir dürfen uns beim hölzernen Kreuz selbst fotografieren. 1.782 Meter über der Adria.
Über die Siegertreppe nach oben
Durch die Himmelsfporte 

Topfenstrudel” gibt’s erst ab 10″, sagt der Mann mit dem weißen Hemd und der schwarzen Hose, die so aussieht, als wäre er gerade aus einem Musical gekommen. Das Hotel Schafbergspitze ist nobel, wir nicht. Sollen wir warten? Es ist Topfenstrudel. Also ja, wir warten.

In freudiger Topfenstrudel-Erwartung

Dem Strudel dürfte sein Verzehr nicht so geschmeckt haben wie mir, so wild wippt er beim Hinablaufen nach Sankt Gilgen in meinem Magen hin- und her. Der Schafberg wäre überschritten, fehlen nur noch Almkogel, Drachenwand, Schatzwand, Schober und Filbling und der Tag ist komplett. Was viel klingt, ist noch viel mehr.

Abstieg vom Schafberg, immer den Wolfgangsee vor Augen

Die Sonne arbeitet heute so brav, als würde sie vom Herrgott kontrolliert werden. Der Abstieg nach Salzburg kommt uns wie einer zum Marianengraben vor. Wir beschließen uns beim “Batzenhäusl” in Sankt Gilgen kurz zur Ruhe zu setzen. Das würde auch funktionieren, wenn dort nicht gerade ein bayerischer Frühschoppen im Gange wäre. Na dann, aunzopft is! Topfenstrudel und Weißwürste. Man kann nicht sagen, dass ich mich nicht ausgewogen ernähren würde.

Gleich hinter dem Gasthaus beginnt der Anstieg zum 1.030 Meter hohen Almkogel. Wieder 600 Höhenmeter. Wieder in der Hitze der Sahara, obwohl doch hier alles so grün glänzt. Durch die grünen Dünen steigen wir bergan. Immer wieder fordern die Beine eine kurze Pause und auch die Lunge schaltet sich ins Gespräch ein. Mehr als ein unverständliches Keuchen hat sie aber nicht zu sagen.

Der Almkogel ist heute besonders gemein zu uns. Nicht nur, dass er zig andere vor uns auf seinen Gipfel gelassen hat, auch der Blick zum kühlenden Nass des Mondsees tut unserer aufgehitzten Stimmung nicht gut.

Der Almkogel über dem Mondsee. Einmal mit Menschen…
…und einmal mit See

Sag mal, wo kommt ihr denn her?

“Du weißt schon, dass wir für die Drachenwand jetzt noch einmal ab- und dann wieder aufsteigen müssten?”, fragt Christoph in einem Unterton, der mir sagt, dass es keine gute Idee wäre, jetzt  “na und?” zu antworten. Bevor meine Widerworte Christophs Ohrmuschel überhaupt erreichen können, hat der schon einen Alternativplan parat: “Den Filbling kennen wir ohnehin noch nicht.”  Also runter, nach Fuschl, mit dem gleichnamigen See, in dem wir wieder nicht baden dürfen.

Während wir auf der langen Forststraße, deren Ende nur abschätz- aber nicht absehbar ist, hinabtraben, liebäugeln wir kurz mit der Schatzwand.  Verborgen hinter einem dichten Wald, der nichts vom Schatz der Wand preisgeben möchte,  erhebt sie sich, und wird nur bestiegen, wenn Bergsteiger die Überschreitung von der Drachenwand zum Schober in Angriff nehmen. Aber irgendeinen Steig muss es doch geben. Hier, schau mal! Wir folgen kurz dem Weg, den wir so euphorisch für uns entdeckt haben, merken aber nach wenigen Sekunden, dass ihn eine Gams angelegt hat. Die runden braunen Markierungen am Boden bestätigen das. Also doch nach Fuschl. Zu Didi Mateschitz und seinem Getränk, das die Flügel verleiht, die wir jetzt unbedingt brauchen würden.

42,8 Kilometer. So viel zeigt unsere Uhr an, als wir uns auf die Sesseln mit den dicken Polsterungen niederlassen. Red Bull Cola, Kaffee und Topfenstrudel im Cafe am Marktplatz, während zwanzig Meter neben uns mit Maßgläsern auf den Kiritag angestoßen wird. Festliches Treiben in Salzburg, festes Reiben in der Unterhose. Der böse Wolf.

Der Filbling, dessen grüner Kamm in der Nachmittagssonne brutzelt, sieht so weit weg aus, wie der Schafberg vom Balkon in Steinbach.

Der Fuschlsee

“Nur noch dieser Berg, nur noch dieser Anstieg”, sagen wir uns immer wieder, als wir dem 1306 Meter hohen Gipfel langsam näher kommen. Da wissen wir noch nicht, dass wir bald im Beton einsinken werden.

Ein echter Familienberg, dieser Filbling. Mit dem Seeblick und dem Wanderweg, der sich steil, aber ohne Schwierigkeiten 630 Höhenmeter nach oben schlängelt. Und der großen Wiese auf dem Gipfel, auf der man so gut entspannen könnte, wenn wir sie doch endlich erreichen würden. Sogar einen eigenen See hat er. Den Filblingsee lassen wir aber aus. Für’s Abkühlen bleibt ohnehin keine Zeit. Wir beide sind jetzt auch eine Familie. Eine Patchwork-Familie. Wir und das Salzkammergut.
Christoph zündet noch einmal den Turbo. Tom Turbo wäre mir lieber, mit seinem bequemen roten Sattel und den 111 Tricks, die uns kinderleicht auf den Gipfel hieven würden. Aber den hat Thomas Brezina in Wien eingesperrt, also müssen es die Füße richten. 2650 Höhenmeter habe ich hinter mir, als ich Christoph kurz vor dem hölzernen Kreuz endlich einhole. “Wo bleibst denn?”  
 
Zufrieden am Gipfel des Filblings
 
Wir zerbrechen die Einsamkeit, in die sich ein Wanderer in der vergangenen halben Stunde verloren hat. “Seid’s ihr unten vom Fuschlsee gestartet, oder von Faistenau?” fragt er uns. Weder noch. Ja sag mal, wo kommts ihr denn her? Aus Steinbach am Attersee, bitte sehr!
Verdutzt, aber begeistert wünscht er uns viel Glück für den Weiterweg. Seine Begeisterung entzündet auch in uns wieder das Feuer. Oder war es die Sonne, die gnadenlos vom Himmel brennt?
Abstieg nach Faistenau

Wenn der Schlaf zum Wellnessprogramm wird

Und wieder diese grünen Dünen. Das Salz, das sich im Gesicht abgelegt hat, könnten wir uns für die Suppe aufheben. Über Weiden steigen wir nach Faistenau ab. Unser Freund Hans, der bereits in “Ebner’s Wohlfühlhotel” mit der Wechselkleidung auf uns wartet und die Gipfel der Osterhorngruppe für uns vorinspiziert hat, meldet sich per Telefon. “Wie lange dauert’s denn noch?” “Nicht mehr lange. Sind schon auf dem Weg”, antworte ich. “Sehr hilfreich. Unterwegs seid’s seit der Früh”. 
Abstieg nach Faistenau 2.0
Von Faistenau bis zu unserer Unterkunft sind es allerdings noch neun Kilometer. Neun lange Kilometer. Neun sehr lange Kilometer. Der Hintersee, mit seinem verlockenden Glitzern, taucht auf. Der Traktor, mit dem lauten Motor, dröhnt an uns vorbei. Und am Himmel bewegen sich die Wolken so langsam  als würden sie sagen wollen: “Was ihr könnt, können wir auch.”  Einmal laufend, öfter gehend mühen wir uns voran. Ich vorne, Christoph hinten, der Beton unter uns.
 
Auf den letzten Kilometern zum Hotel 
Ertrunken sind wir schließlich nicht darin. Und auch das Ortsschild war keine Fata Morgana. Nach 57,5 Kilometern und 2750 Höhenmetern können wir endlich das Hotel sehen. Ein Bier, ein Abendessen, ein Danke für die Wechselkleidung.
Die Sauna ist noch offen”, sagt man uns. “Danke, da waren wir heute schon”, denke ich mir. Nur noch ins Bett, einfach nur noch die Augen zumachen und träumen. Vom Osterhorn, der Postalm und der Nacht auf der Goiserer Hütte, die uns morgen erwartet. Von einem neuen Tag im Salzkammergut.

Ein Albtraum wird das trotz aller Strapazen nicht. Und als ich mich zwischen den dicken Kopfpolstern und der dünnen Decke ins Bett kuschle, merke ich, wie es in meinen Füßen wieder kribbelt und sich die Vorfreude von den Zehen langsam in den Kopf schiebt. Bis morgen, Salzkammergut.