Der Wecker klingelt um 4:30 Uhr in zwei Wohnungen irgendwo in der oberösterreichischen Stahlstadt. Müsste ich in die Arbeit gehen, ich würde ihn wegdrücken. Heute stehe ich pünktlich vor Hans Haustüre. Fünf Uhr früh: Die Begrüßung fällt kühler aus, als die Außentemperatur. Keine Differenzen, nur Müdigkeit.
Zwei Stunden später erreichen wir die Autobahnausfahrt Flachauwinkl-Süd. Dort, wo es im Winter vor konditionsstarken Schluckspechten nur so wuselt, herrscht nun Stille. Nur die Blätter rauschen. Oder war es doch der Lastwagen, der gerade über die Tauernautobahn brettert? Hier erleben wir auch gleich die ersten Schwierigkeiten. Während im Winter für die holländischen und deutschen Skiakrobaten alles frisch geräumt ist, ist nun alles abgesperrt. Unterhalb vom Hotel Wieseneck werden wir aber schließlich fündig.
Der lange Zustieg
Wir nehmen die lange Forststraße zur Gründbichlalm. In den langen und flachen Kehren gewinnen wir nur langsam an Höhe. Wir erhaschen die ersten Blicke auf unsere Ziele. Die Ennskraxen sieht machbar aus, aber der Faulkogel könnte glatt als Berg auf einem anderen Kontinent durchgehen. Trotzdem versuche ich Hans in meinen Geheimplan einzuweihen. “Wir könnten nach dem Faulkogel auch noch das Schilcheck und das Benzeck mitnehmen.”, sage ich voll Freude. Begeisterung sieht anders aus.
Erste Blicke auf die Ennskraxen (rechts vom Baum) und den Faulkogel (links vom Baum)
Nach eineinhalb Stunden erreichen wir schließlich die Gründbichlalm. Das Moseregg umrunden wir weglos auf der Westseite. Erst am südlichen Zipfel des Mosereggs wird der Jägersteig deutlich. So können wir uns die paar Höhenmeter hinunter zur Steinkaralm sparen und auf dem Rücken bleiben. Wir erreichen schließlich wieder den markierten Weg bei einer Tafel mit Wegzeiten. Diese erscheinen uns doch recht großzügig bemessen, da die Steinkaralm und der Blaue See jeweils mit einer halben Stunde angegeben sind. Nach gefühlten zehn Minuten stehen wir beim Blauen See, oder zumindest was davon noch übrig ist. Eine kleine Lacke trotzt den Temperaturen unter den steil abfallenden Felswänden der Ennskraxn.
Erstmals heute wird der Weg nun steiler. Geschickt und mit leichten Kletterstellen gespickt schlängelt er sich empor zum Gipfel der Ennskraxen (2.410 m). Dort empfangen uns schon drei Gipfelstürmer. Während ein junger Pongauer die umliegenden Gipfel und deren Schitourenmöglichkeiten ohne dabei Luft zu holen erklärt, qualmt er, mit der Kraft einer Dampflokomotive, gleich mehrere Zigaretten. Nachdem Hans beim Gipfelquiz mit dem Sandkogel unterhalb der Höllwand in Großarl punkten konnte, setzen wir unsere Reise fort.
Einstieg in den Kraxengrat
Die ersten Meter am Kraxengrat sind felsig aber keineswegs schwierig. Schon nach ein paar Metern kommen wir wieder in zahmes Wiesengelände. Der Kraxenkogel ist schnell erreicht und mit seinen 2.436 Metern sogar etwas höher als die beliebte Ennskraxen, dennoch ziert kein Kreuz sein Haupt. Wir steigen hinab in die Scharte zwischen Kraxenkogel und Bernkarkogel. Hier befindet sich auch der Ursprung der Enns, jenem Fluss, der mit seinen 254 km Länge als der längste Binnenfluss in Österreich gilt und schließlich bei Mauthausen in die Donau mündet. Kurz scherzen wir, wie lange unsere Spucke wohl benötigen würde, bis sie in Steyr – dem Heimatort von Hans – ankommen würde.
Der Aufstieg zum Bernkarkogel (2.336 m) wirkt von der Scharte aus gesehen ziemlich schwierig, stellt sich aber bei näherer Betrachtung und Umgehung auf der Westseite als recht zahm heraus. Eine Holzstange ziert den Gipfel. Der weitere Weg zum Liebeseck und bis zum Schoberkogel sieht nach einer sprichwörtlich gemähten Wiese aus. Dass wir uns hier gewaltig täuschen, werden wir ein paar Minuten später erfahren. Ich gehe mehr oder weniger am höchsten Punkt bleibend dem Liebeseck entgegen. Die Stille und Einsamkeit dieser entlegenen Gipfel entfaltet sich nun vollends. Immer wieder sind Steigspuren zu sehen, wir kommen ohne viel nachzudenken voran. Plötzlich wird die Stille durchbrochen. Hans schreit auf.
Liebe zum Schmerz am Liebeseck
Er sitzt am Boden und greift sich ans Sprunggelenk. Ist unsere Grattour nun vorbei? Ich stelle den Rucksack ab um zu trinken und versuche aufzumuntern. Hans humpelt mir entgegen und meint zerknirscht, “Ich weiß nicht, ob das so noch etwas wird”. Dennoch gehen wir langsam weiter und schinden uns die Schotterrampe zum Liebeseck (2.303 m) hinauf. Während sich im Winter hier zahlreiche Tourengeher tummeln und der Name Liebeseck einen an romantische Stunden bei Kerzenschein denken lässt, strahlt der Gipfelsteinmann heute eine Ruhe aus. Ruhe bewahren, das gilt nun auch für uns. Mittlerweile gibt es auch eine Unterhose mit dem Liebeseck drauf zu kaufen. Es ist aber keine Unterhose, die Hans nun aus dem Rucksack zückt, sondern eine Schmerztablette. “Vielleicht hilft es ja”, meint er grantig, kurz und knapp, bevor er sich schon wieder an den Abstieg macht. Am Liebeseck verweile ich noch kurz und schwelge in Gedanken an meine Liebsten zu Hause. Nach kurzer Zeit habe ich Hans wieder eingeholt.
“Geh du alleine auf den Faulkogel, ich schaffe das heute nicht”, blafft er mich an wie einen Hund, der gerade eine Wurst gestohlen hat. Zu tief sitzt der Frust, dass der zweitägige Ausflug nun schon vorbei sein soll. Der Weg ist nicht schwierig, ich gehe also auf Geheiß weiter. Nach einigen Minuten drehe ich mich um und merke dabei, dass Hans nicht viel langsamer ist als ich. Ich warte auf ihn. Bei mir angekommen begrüßt mich Hans mit einem Schrei, um sich sogleich zu entschuldigen. Diesmal lasse ich mich nicht wegschicken, sondern überzeuge Hans davon, dass wir zumindest bis zur Neukarscharte gemeinsam gehen. Ein gute Entscheidung. Gleich nach dem unscheinbaren Schoberkogel (2.229 m) wartet die Schoberscharte, die Schlüsselstelle des Grates. Auf den ersten Blick fast unüberwindbare Felstürme, auf den zweiten Blick zahme Felsen maximal im unteren zweiten Schwierigkeitsgrad. Eine steile schottrige Wiese hinunter, vorbei an alten Holzpfählen mit Drähten, die möglicherweise als profane Lawinenverbauung dienten, erklimmen wir, teilweise von Steindauben begleitet, recht flott die Felstürme.
Faulkogel oder doch nicht?
Am markierten Weg bei der Neukarscharte angekommen, blicke ich zu Hans: “Wie schaut’s aus?”. Ich kann förmlich hören, wie die Gedanken in seinem Kopf kreisen: “400 Höhenmeter noch. Faulkogel, ja oder nein? Schaffe ich das? Ist das gut für mein Sprunggelenk?”. Ich versuche die Situation für Hans zusammenzufassen: “Objektiv gesehen ist es keine gute Idee, andererseits warst du seit dem Liebeseck vermutlich nur zehn Minuten langsamer als mit normalem Tempo”. “Gemma!”, quitiert Hans meine Aussage und ist schon am Weg Richtung Faulkogel.
Gleich zu Beginn gibt es ein paar Seilversicherungen zu überwinden. Auch Hans muss sich überwinden, immer wieder entkommt ihm ein schmerzlicher Aufschrei. “Wenn ich mehr mit den Zehenspitzen aufsteige geht es besser”, spielt er seine Schmerzen hinunter. Der steile seilversicherte Kamin stellt die Schlüsselstelle im Aufstieg zum Faulkogel dar. Nach dem Kamin wird das Gelände wieder einfacher, zwei Damen begrüßen uns im Abstieg und wir trotten dem Gipfel entgegen. Schön langsam melden sich die Beine, kein Wunder, haben wir doch die 2000er Marke im Aufstieg längst überschritten. Nach einer Stunde von der Neukarscharte und sechseinhalb Stunden nach dem Start erreichen wir den Gipfel und somit höchsten Punkt der Tour (2.654 m). Die Gipfelpause haben wir uns verdient, vor allem Hans dessen Motivation und Leidensfähigkeit beachtlich ist. Chapeau!
Einige Fotos und Müsliriegel später beginnen wir wieder mit dem Abstieg. Nach kurzer Zeit bemerkt Hans, dass er sein Kapperl vergessen hat. “Ich drehe um”, sagt er zu mir. “Unglaublich stur und zäh”, denke ich mir, bevor ich das Kapperl hole und Hans den Abstieg derweil fortsetzt. Ohne Schwierigkeiten erreichen wir nach 45 Minuten wieder die Neukarscharte. “Schaut noch ganz schön weit aus bis zur Marbachalm”, stellen wir beide fest. Nachdem die Marbachalm um 17:00 Uhr schließt, äußere ich meine Gedanken, dass wir vielleicht die letzten faden Straßenkilometer mit den Wirtsleuten mitfahren könnten. “Nein! Wir beenden die Tour auf ehrliche Art und Weise”, entgegnet mir Hans. “Unglaublich stur und zäh”, denke ich mir wieder.
Wir sehen uns den Neukarsee aus der Ferne an und kommen nach dem Abzweiger zum Mosermandl bzw. Franz-Fischer-Hütte noch an einer schmalen seilversicherten Stelle vorbei. Danach weitet sich das Kar. Im Abstieg zur Ursprungalm kommen wir an jener Stelle vorbei, wo ich mir gedacht hätte, dass man zur Ennskarhütte hinüber queren kann und in weiterer Folge aufs Schilcheck und Benzeck gelangen könnte. Steile Schotter und Wiesenhänge wären zu queren. “Das hätte ich vermutlich auch mit einem gesunden Fuß nicht gemacht”, reißt mich Hans aus meinen Gedanken und wir folgen weiter den Serpentinen nach unten. Auf der Fortstraße werden wir freundlich von Kühen begrüßt. Die Anspannung fällt etwas ab, da der Weg für Hans nun leichter wird. Wir gehen bei der Hinteren Marbachalm vorbei um wenige Minuten später auf der Bank bei Vorderen Marbachalm zu sitzen.
Salzburger Gastlichkeit
Die Wirtin empfängt uns freundlich, aber bestimmt: “Ein Bier könnt ihr noch haben, Küche gibt es keine mehr, weil wir zu den Kühen müssen”. Dankbar nehmen wir das kühle Hopfengetränk an, um sogleich noch ein Zweites zu genießen. Wir plaudern kurz mit der Wirtin über unseren bisherigen Weg. Natürlich fällt kein Wort über die Verletzung von Hans. Wir bedanken uns ziehen weiter in Richtung Flachauwinkl. Wir erreichen nach etwa zwei Kilometern die asphaltierte Straße. Dort befindet sich auch eine Bushaltestelle. Hans blickt auf die Anschlagtafel. “Erst in 45 Minuten geht ein Bus, darauf warten wir bestimmt nicht”, sagt er. In diesem Moment schreit uns jemand zu. Es ist die Wirtin mit ihrem Mann, im Auto. “Wollt’s mitfahren?”, fragt sie. Hans und ich blicken uns kurz an. “Ja, gerne!” Er ist ja doch nicht so stur, wie ich mir gedacht habe.
Etwas mehr als eine Stunde später sitzen wir frisch geduscht im Gastgarten unserer Unterkunft in Grödig. Die Freude über die Tour und der Hunger auf das bestellte Essen ist groß. Wir stoßen darauf an, dass noch einmal alles halbwegs gut gelaufen ist und auch Hans am Faulkogel mitkommen konnte. “Morgen gehst du alleine auf die Watzmannfrau!”, lässt Hans keinen Zweifel aufkommen. Wohl gemerkt, ohne Kapperl, denn das habe ich dann irgendwo verloren.
Tolle Tourbeschreibung!