Da rüber? Gibt’s nicht. Nicht über das Seil, das wie eine Gitarrensaite zwischen die Felsen gespannt ist. Kurzer Test, langes Wackeln. Der Blick nach unten macht es auch nicht besser. Den trotzigen Schnee, der sich im Goldkar mit schmelzenden Chancen gegen den Sommer auflehnt , kann ich mir später auch noch ansehen. Also doch lieber wieder geradeaus mit den Gedanken. Unten steigen, oben halten. Es sind ja nur 17 Meter. Und schließlich ist es auch nur eine und nicht sieben Brücken, über die ich gehen muss. Wenn ich doch genauso schnell steigen würde, wie das Kribbeln, das sich von den Zehen in den Bauch verlagert hat. Augen auf, und durch. Oder besser drüber. Die Seilbrücke und mein Gleichgewicht harmonieren. Das schüchterne Lächeln weicht einem breiten Grinsen. Elegant sieht das zwar alles nicht aus, dem Namen des Quergangs, der gleich folgt, wird der verhaltene Balanceakt aber gerecht: Hosenscheißer-Traverse. Und das war erst der Anfang.
Ein sympathischer Rekord
Vieles habe ich mir am Vorabend ausgemalt. Gemeinsam mit dem Sonnenuntergang, der den Himmel über dem Prielschutzhaus tief in feuriges Rot getaucht hat. Wie ich einsteige, wie ich not- und wie ich normal aussteige. Am längsten Klettersteig Österreichs. 2130 Meter Stahlseil. Mehr als 2 Kilometer lang. Ein Seil, das vom Linzer Hauptbahnhof bis nach Urfahr reichen würde. Dazu 900 Höhenmeter, immer im mittleren und oberen Schwierigkeitsbereich. Ein so heißes Eisen, dass er auch den Königsjodler auf den Hochkönig um Längen schlägt. Hochalpin, mit dem großen Finale beim großen Kreuz des Großen Priels. Fünfeinhalb Stunden Kletterzeit. Pyhrn-Priel-Superlative. Die Gedanken kreisen, die Vorfreude nicht. Sie steigt stetig.
Der neue Priel-Klettersteig ist ein Rekord. Einer, der ganz ohne Sucht auskommt. Denn er geschah zufällig. Die längste Notlösung Österreichs. Denn der bestehende Bert-Rinesch-Klettersteig hatte in seinen 13 Jahren, die er bereits auf den höchsten Gipfel des Toten Gebirges führt, einen Schönheitsfehler bekommen: Steinschläge am Einstieg. Immer und immer wieder. Bei der Sanierung des Steigs, die oft bis spät in die Nacht dauert, sind sich Heli Steinmaßl und Siegfried Wasserbauer sicher: „Die Gefahr ist zu groß“. Also, was tun? Sperren? Zurückbauen? „Uns kam die Idee, den Steig einfach am Grat weiterlaufen zu lassen. Damit waren wir auf der sicheren Seite“, sagt Steinmaßl. Und besser als ein Stein am Schädel ist ein längerer Klettersteig ohnehin.
Also begaben sich Steinmaßl und Wasserbauer erneut in die Nordostwand des Großen Priels. 45 Tage lang. Die Seile des Bert-Rinesch-Steigs wurden abgezogen, erneuert und mit dem Stahl, der über den Südostsporn führt, verbunden. Insgesamt mehr als drei Tonnen an Seilen und Haken verlegen die beiden Bergführer. An dem Projekt arbeiten sie rund 1000 Stunden. Zu-und Abstiege sind da noch gar nicht miteingerechnet. Der Weg, den sie bereiten, führt durch Höhlen, über Brücken und Leitern, an Bändern entlang und über Felsaufschwünge hinauf. Ein Abenteuer vor der Haustür.
Ich glaub‘, mich laust der Affe
Darauf will ich mich einlassen, als ich um sieben Uhr früh, die Prielschutzhaustüre hinter mir schließe. Hüttenwirt Michael ist da noch mit dem Frühstücksbuffet beschäftigt, das Klimpern des Geschirrs dient als Einstimmung für die nächsten Stunden. Nur, dass es dann die Karabiner sind, die klimpern. Mit Argwohn beobachte ich den Großen Priel und will nicht verstehen, warum er sich trotz Hitze eine dicke Wolkenhaube aufgesetzt hat. Der Wind wirft sie ihm vom Kopf, er setzt sie wieder auf. Sturer Zapfen. 45 Minuten trennen mich auf der gemütlichen Sonnenterrasse des Prielschutzhauses noch vom Einstieg in den Aufstieg. Vorbei am Bloßkogel, der weniger Adrenalin, dafür viel mehr sicheren Boden unter den Füßen bietet. Und dann hinein in Richtung Goldkar. Die Spitzmauer zur Linken, den Kressenberg zur Rechten und der Stahl, der in der Sonne glänzt, voraus.
Wo der Grat ausläuft, fängt die Reise an. Gurt sitzt, Helm auf, beide Karabiner hängen im Seil. Und das A-B-C des Klettersteigs beginnt. Nur, dass dieses Alphabet heute beim Buchstaben D enden wird. Zuerst leicht über eine Rinne auf den Grat (Schwierigkeitsgrad A), kurz etwas fester zupacken (B), und dann folgt die Euphorie auf glatten Platten (C).
Aufwärmphase- abgeschlossen. Nur noch 850 Höhenmeter. Man kann sich alles schönreden. Im Kühkar jagen die Gämse über den endlosen Schotter, blicken kurz auf und ziehen eine Schleife Richtung Klinserschlucht. Flink, wie der Affe, der plötzlich vor mir sitzt. Affen im Toten Gebirge? Niemals. Und trotzdem lacht da dieser Schimpanse ins Stodertal hinab. Mit etwas Fantasie kann man ihn erkennen. Das graue Haar, das frech zur Igelfrisur geformt wurde. Und seine stoische Miene. Nur recht lebendig wirkt er nicht. Der Affe ist aus Stein. Und diesen Stein gilt es zu überwinden, wenn die Stahlseile des Priel-Klettersteigs nicht vorzeitig zurück ins Tal leiten sollen. “Affenschädel” heißt der Felsaufschwung, an dem die Schwierigkeiten nun ihren Anfang nehmen. Und die Kraft der Bananen wird es nicht nur hier brauchen. Der Stahlbügel, der wie eine riesige Zahnspange in seinem Gesicht sitzt, ist der Schlüssel, um dem Affen Zucker zu geben. Ein süßer Vorgeschmack auf das, was da noch kommen wird. Geschafft. Ob das wohl affig ausgesehen hat?
Auf der Himmelsleiter
Die Füße tasten nach dem nächsten Felsabsatz, die Hände schlingen sich ums Seil. Ein Quergang, der nicht enden will. Und er wird von einem weiteren abgelöst. Und dann kommt noch einer. Ohne es zu wollen, werde ich zum Querulanten. Bis es plötzlich hinabgeht. In eine Höhle und wieder hinaus. Dann ist es geschafft. Mann, war ich schnell. Aber seit wann hat der Priel ein Holzkreuz? Und warum türmt sich hinter seinem Gipfel eine Felswand auf? Das Kreuz, das auf dem 1890 Meter hohen Südostsporn Hochgefühle weckt, ist nur eine Zwischenstation. Oder eine Endstation. Wer sich hier zu schwach für die weiteren 600 schwindelerregenden Höhenmeter fühlt, kann den Notausstieg nehmen.
Noch nicht, lieber Priel. Ich will noch sehen, wo mich deine Seile hinführen. Und die langen Querungen gehen weiter. Bis diese zwei Seile in der Stodertaler Luft hängen. Das eine für die Füße, das andere, um die Balance zu halten. Bei so viel Action hätte Arnold Schwarzenegger seine Freude. Auch hier könnte man aus der Not eine Tugend machen und den Klettersteig verlassen. Aber gerade jetzt ist das Klimpern der Karabiner Musik in meinen Ohren. Aber, Moment. Da ist tatsächlich Musik in meinen Ohren. Die Töne der offiziellen Eröffnungsfeier hallen durch die Wandfluchten. Martin Müllner, Obmann des Alpenvereins TK Linz, lobt die Arbeit der Erbauer und ein bisschen kann man auch den Stolz hören, der in seinen Worten mitklingt. Denn einfach war bei diesem neuen Klettersteig nichts. Weder die Bewilligung, noch seine Errichtung. Und schon gar nicht die Begehung.
Das spüre ich auch nach dem 17 Meter langen Seiltanz. In der zweiten Höhle, in der alle meine Muskeln zusammenarbeiten müssen, um sie wieder zu verlassen. Ein Überhang, kurz D. Gefühlt länger. Die schwierigste Stelle des Steigs. Da lässt es sich über den Reitgrat schon einfacher galoppieren. Noch schneller geht es in der Lokomotive. Dem Namen nach zumindest. Wenn da nicht schon wieder zwei Seile in der Luft hängen würden. Aber diesmal geht es leichter. Und mittlerweile ist auch das Neuland langsam entdeckt.
Ab jetzt führt der gewohnte Bert-Rinesch-Steig durch die Wand. Ein Grund zum Durchschnaufen ist das aber noch lange nicht. Denn nach dem “Almrauschbandl”, das nicht ganz so blumig ist, wie es der Name verspricht, folgen die steilsten Passagen des Klettersteigs. Klammern, Stifte, glatte Felsen. Und dann sogar Leitern.
Mit denen kann ich mich ja noch arrangieren. Sie haben zumindest Sprossen und sparen Kraft. Nur nicht, wenn sie überhängend sind. Die Muskeln spannen, der Schweiß rinnt und verwischt die zittrige Unterschrift, die ich in das Steigbuch eintrage. Dann gibt es kein Entrinnen mehr. Zwei lange Rinnen kündigen das Ende der Vertikalen an.
Die Krönung des Königs
Das Gefühl, direkt in der Luft zu hängen, ist vorbei. Das Gelände wird sanfter. Es naht der Ausstieg auf den langen Südgrat. Gehgelände. Fast zumindest. Das Adrenalin nimmt ab, die Anstrengung wird spürbar. Noch ein kleiner Aufschwung, und noch einer. Ein Meer aus Felsen und zum Schwimmen fehlt mir bald die Luft. Dann taucht es plötzlich auf. Rot, groß, von Weitem sichtbar. Diesmal ist es das richtige Kreuz. Die Belohnung gibt es zuerst für die Augen: der Tiefblick in die Hetzau und der weite bis zum Dachsteingletscher. Raus aus dem Gurt, rein in die Euphorie. Ein Klettersteig, besser als ein Film: Er zieht sich in die Länge und lässt trotzdem keine Langeweile aufkommen. Eines ist sicher: Der Wegweiser zum Priel-Klettersteig wird zum Aushängeschild für die Pyhrn-Priel-Region.
Wenn nur Michis gute Küche im Prielschutzhaus ein paar Höhenmeter weiter oben wäre. Die Gedanken gehen ein paar Schritte voraus: Grat, Brotfallscharte, Kühkar. Und Kuchen und Kaffee zum krönenden Abschluss. Gekrönt wurde auch der Große Priel mit dem neuen Klettersteig: Jetzt hat der Größte auch den längsten. *
*Dieser Text erschien auch in der Zeitung des Alpenvereins TK Linz.
Sehr humorvoll, Interessant und detailliert Beschrieben, Danke!