Vom Kühlschrank in die Eiszeit


10. Dezember 2016
Watzmannüberschreitung


2390 Höhenmeter, 23 Kilometer Wegstrecke

Von Gabriel Egger 




Ungemütlich ist es hier, auf dem kalten Betonboden. Der Wind schlägt die Fensterläden auf und zu, der Kerzenschein, der durch die Dunkelheit des kleinen Zimmers flackert, erzeugt nur wenig Geborgenheit. Der Winterraum des Watzmannhauses, 1930 Meter hoch über dem deutschen Berchtesgaden, ist ein Kühlschrank, temperiert auf ein Grad über null. Gelagert darin sind Bergsteiger: gesund, vitaminreich, aber zäh. Aus drei verschiedenen Ländern sogar, zwölf an der Zahl. Zwei davon haben fürs Frischbleiben die Gefriertruhe im Vorraum bekommen. Das Feuer im Kamin ist längst erloschen, Moritz Kopf verschwindet wärmesuchend unter dem Schlafsack, an sämtlichen Reißverschlüssen wird gezupft und gezogen.

Zwei Stunden zuvor sind wir von der Wimbachbrücke aus gestartet. Da war es halb zehn Uhr abends. Die Gipfel des Watzmannmassivs, zwischen Sternen, Mond und dem Flimmern der Luft, wirkten wie große Eiszapfen, ihr Weiß leuchtete den Weg.

9.873 Bergsteiger sind von Juli 2015 bis September 2016 über die drei Watzmanngipfel gestiegen. 300 waren es an nur einem Tag. Jetzt ist es ruhig geworden, kein Klimpern, kein Schreien, kein Bierglas, das im Höhenrausch zerbricht. Der Blick von der Falzalm auf die Watzmanndame ist im Dezember etwas Persönliches, ja sogar beinahe intim. Ein kleines Separee. Watzmannfrau, Gabriel und Moritz.

Die lange Dunkelheit

Der Steig , der uns hier auf den Boden der Tatsachen brachte, war stark vereist. So richtig Winter war er aber nicht. Auch der Blick hoch zum Hocheck, sofern der aufkommende Föhn den Augenlidern eine Chance gibt, geizt mit optisch kalten Reizen.
Der beleuchtete Winterraum des Watzmannhauses. Im Hintergrund das Hocheck

Mein Wecker ist auf fünf Uhr früh gestellt. Also vier Stunden noch, hier auf dem Beton. Viel Zeit, nachzudenken. Ob der Berchtesgadener Land Tourismus Wolfgang Ambros bald zum Ehrenbürger ernennt? Ob sich die Einheimischen wünschen, dass der “Bua” niemals den Ruf des Watzmanns vernommen hätte? Ob der leicht angeheiterte Mann mit Bart da im Nebenraum wohl endlich die letzte Melodie durch seine Nasenflügel trötet?

Und des Feuer brennt immer nu, lichterloh, ganz so wie’s früher war

Sechs Minuten noch. Die Dunkelheit dauert mir zu lange, die Lichter von Berchtesgaden strahlen verführerisch. Dort unten, wo sich der letzte Trunkenbold gerade vor die Türe setzen lassen muss. Der Wecker klingelt, sein Ton ist bedeutungslos. Der Körper ist kühl, die Knochen beleidigt. Wäre ich auch, wenn man mich so hart betten würde.

Langsam erwacht der Winterraum zum Leben, Pickel werden montiert, Stutzen über die Knöchel gezogen, freundlich gegrüßt, intensiv gegähnt. Um dreiviertel sechs Uhr stehen wir fertig gepackt vor dem Watzmannhaus. 40 Liter in einem 28 Liter Rucksack. Es gab schon einmal bessere Ideen.
Die Überschreitung, der begehrte Klassiker der Ostalpen, im Winter. Eine schöne Vorstellung. Noch schöner ist das leise Morgenrot, das uns beim Aufstieg zum 2.650 Meter hohen Hocheck begleitet. Leise, weil es sonst mit Pauken und Trompeten über den Horizont fegt. Weil man sonst erst so kurz vor dem Sonnenaufgang darauf aufmerksam wird.

Die Dämmerung setzt langsam ein 

Die starke Vereisung hält an, die steilen Serpentinen kürzen wir direkt über lange Schneefelder ab. Ein paar Schritte in einer unangenehmen, ausgesetzten Querung und wir erreichen den Vorgipfel. Der Hochkalter steht dort drüben, als würde es ihn gar nichts angehen, als hätte er nur Interesse an seiner eigenen Erscheinung. Ich denke an Andi Riesner, der dort vom Gipfel abfahren wollte, und nie wieder zurückkam.

Mittelspitze

“Hätte nicht gedacht, dass wir da keine Steigeisen brauchen”. Rums. In diesem Moment rutscht Moritz auf einer Eisplatte aus. Kurz vor dem Gipfel des Hochecks, in einem abgewehten Steilstück. Der Vorführeffekt. “Passt alles, danke”. 
Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, der goldene Jesus hängt noch im Dunkeln. 07:30 Uhr und der Grat taucht vor uns auf. Weiß, atemberaubend, ein bisserl zum in die Knie gehen.
Der Grat zur Mittelspitze vor dem Sonnenaufgang
Am Gipfel des Hochecks
Verschneiter Watzmanngrat

Jetzt kommen sie doch an die Füße, die zwölfzackigen Hilfsmittel. Die Temperatur ist auf sieben Grad unter null gesunken, meine Nervosität dafür knapp an der Siedegrenze. Mit dem ersten Schritt ist sie verflogen. Das Geräusch der Steigeisen, die sich in den verfestigten Schnee bohren, durchbricht die Stille des Morgenrotes.

Die Winterbedingungen bleiben mittelspitze. Einmal tief verschneit, einmal kratzen die Zacken am Fels. Nur der Spaß bleibt konstant, das Gefühl der Exklusivität.
Der Beginn der Überschreitung

 

Nach langer Dunkelheit zeigt sich die Sonne 
Die Querungen sind eingeweht, werden durch den Schnee schmal und abenteuerlich. Wenn das Seil unter dem Weiß verborgen ist, weht ein Hauch von Alpinismus über die Gratschneide.
Alpinismus auf dem Watzmann

Der steile plattige Teil, der im Sommer mit zahlreichen Steighilfen und Seilen nur für die Atemwege anspruchsvoll wird, ist jetzt eine Eisrampe. Auf der Westseite ist die Stimmung ganz anders als im sonnigen Osten. Erdrückender, aber ehrlicher. Geradliniger Winter.

Über Bänder zur Watzmann- Mittelspitze

Nach nur 30 Minuten erreichen wir den verwechteten Ausstieg zum höchsten Punkt auf dem Watzmann. Nicht mehr mittelspitze, sehr spitze.Triebschnee, schwer zu begehen und ein Tiefblick, der den warmgewordenen Körper wieder an die vergangene Nacht erinnert. 2713 Meter über der Adria sind die Gedanken wieder im Süden. Vor uns baut sich die Südspitze auf, zum Greifen nahe und doch durch enorme Felsabbrüche getrennt. Die legendäre Watzmann-Ostwand glänzt in den warmen Sonnenstrahlen. Fast einladend wirken die Kristalle, die sich über die mächtigen Wände gelegt haben. Wie Hermann Buhl dort damals im Winter durchkam?

Der zweite Gipfel ist erreicht
Der großartige Blick zur Watzmann-Südspitze
Watzmann-Ostwand mit Biwakschachtel

Eine weiße Linie

Wir rasten kurz, genießen die Wärme auf der Haut. Auch der
Rest der Überschreitung scheint gespurt zu sein, die Orientierung kein Problem.
Das Dach des Matrashauses auf dem Gipfel des Hochkönigs spiegelt sich in der
Sonne, der Hundstod wehrt sich mit seiner formschönen Eleganz gegen den
unschönen Namen, dem man ihm gab.
Es geht weiter. Entgegen unserer Erwartungen mehr im Fels,
als im Schnee. Das Abklettern mit den Steigeisen ist mühsam, ausziehen können
wir sie aber nicht. Immer wieder schieben sich Eisplatten dazwischen, mahnen
zur Vorsicht.
Abklettern von der Mittelspitze
Die Querungen unterhalb der Südspitze sind unangenehm, der
windgepresste Schnee hat sie in enge Streifen verwandelt, behutsam fährt ein
Zacken nach dem anderen in das Eis, knarrt, bleibt stecken und gibt Sicherheit.

Abschüssige Querungen
Erst am Schlussgrat wird es richtig spannend. Eine weiße
Linie, scharf, elegant, schmal. Was für ein aufregendes Gefühl zwischen
Wimbachgries und Königssee zu balancieren. Der Pickel stützt den Körper, die
Konzentration die Gedanken.
Keine zwei Stunden sind seit dem Hocheck vergangen, da baut
sich die letzte Rinne vor uns auf.
Ausblick über den Großen Hundstod hinweg
Schlussgrat zur Südspitze
Ein wunderbares Gefühl zwischen Licht und Schatten
Ein paar geschickte Schritte und der Föhn bläst uns
entgegen. Geschafft. Und das größte Zittern hatten wir bereits nach der Nacht
hinter uns.
Trotzdem, hier am 10. Dezember zu stehen, davon habe ich
lange geträumt. Der Watzmann im Winter ist etwas ganz Anderes, etwas
Besonderes, etwas, dass diesen geprügelten Berg in seiner Urform zeigt. Ein Musical hat dem Berg seinen Reiz gegeben und gleichzeitig viel davon genommen.
Hier, mit den Knöcheln im Schnee, spüre ich ihn  wieder. Weit weg von der Gailtalerin und
trotzdem mit verdrehtem Kopf. Moritz baut uns eine Schneehöhle, der Wind pfeift
darüber hinweg, das Leben scheint darin konserviert. Wir fühlen uns frisch, die
Gedanken sind neu strukturiert.
Christian und seine Freundin Maria kommen am Gipfel der
Südspitze an. Zwei waschechte Salzburger, gar nicht lob. Die Freude in ihren
Gesichtern bringt auch uns wieder zum Schmunzeln.
Auf der Watzmann-Südspitze
Maria und Christian
Nach einer halben Stunde im Schnee machen wir uns an den Abstieg. Im Sommer eine Sauna, ist der Abstieg ins Wimbachgries im Winter angenehm. Die wenigen Eis-und Schneefelder im oberen Bereich sind schnell überwunden, auf einer Wiese knapp über 2000 Meter Seehöhe rasten wir, machen die Augen zu, singen in Gedanken, jubeln im Geiste. Wintersonne, wie wunderbar.
Abstieg von der Watzmann-Südspitze
Rückblick
Rastplatz
Der Abstieg ins Wimbachgries ist wie der Tag vor einer schweren Prüfung. Der Gedanke daran schrecklich, die Ausführung meist unmotiviert und danach ist alles wunderbar. Wir haben sie bestanden. Genügend.
Kurz vor der schweren Prüfung “Wimbachgries”
Mehr als acht Kilometer lang zieht sich der Weg durch den fantastischen Kessel zurück zur Wimbachbrücke. Immer wieder schweift der Blick hoch zum gerade überschrittenen Grat, im Augenwinkel bleibt er bis zum Parkplatz.
Wimbachgries
Dort verwandelt er sich wieder in die bekannte Silhouette, die auf Tassen, Ansichtskarten und Bildern durch die Welt geistert. Und dabei nur an der Oberfläche kratzt.Jetzt kennen wir nicht nur sein Erscheinen, jetzt kennen wir seinen Charakter. Watzmann, Watzmann, Winterberg.
Raus aus den klobigen Schuhen, rein in die Gemütlichkeit.
Im Auto hat es ein Grad über Null. Das kennen wir doch irgendwoher.