Raue Zeiten in den Ybbstaler Alpen. Bei Neuschnee gibt es vom Vaterberg nur wenig Zuneigung.



15 Kilometer Wegstrecke, 1200 Höhenmeter


03. Dezember 2016



Von Gabriel Egger



Erst kommt die Angst, dann kommt die Dunkelheit. Kein Schritt ohne dreimal zu überlegen. Der Fels genauso kalt, wie der Schweiß, der sich zum Schauer sammelt und über den Rücken läuft. Die Zeit rinnt. Keine Sanduhr, ein Wasserhahn. Umdrehen? Geht nicht mehr. Weitergehen? Zu gefährlich. Die Schatten werden länger, der Ötscher zeichnet sich ins Alpenvorland. Der Griff zum Pickel, die Suche nach Halt. Im Eis spiegeln sich die angespannten Gesichter.


140. Die Rettung vom Vaterberg. Der Hals heiser, der Kamm rau. Ein letzter Blick vom Bergetau, die Rotoren wirbeln den Schnee auf. Heute nicht. 

Derselbe Berg,ein gemeinsamer Startpunkt, ein völlig unterschiedliches Ende. Zwei Niederösterreicher konnten nicht in die Fußstapfen treten, die wir nur zwei Stunden zuvor in den jungfräulichen Schnee gezogen hatten.

Drei gegen Papa

Minus 11 Grad frieren die Nasenspitze ein, als wir in Lackenhof aus dem Auto steigen. Ein kleiner beschaulicher Ort in Niederösterreich, am Westfuß des Ötschers. 150 Häuser, nicht mehr als 500 Einwohner, aber ein gut strukturiertes Skigebiet. Winterfrische für die Wiener, 15 Hotels für Touristen, fast alle in ausländischem Besitz. Die unwirtschaftlichen 90er Jahre haben ihre Spuren hinterlassen. Wie wir, als wir Richtung Raneck marschieren. Eine Ortschaft, noch kleiner als Lackenhof, 954 Meter hoch, mit Blick zum Ostgrat des Großen Ötschers. Rauer Kamm wird er genannt. Denn man kann unsanft landen.

Heute ist Schneeschaufeln Ortssport in Lackenhof. Zwanzig Zentimeter sind über Nacht gefallen, vorweihnachtlicher Segen für den Tourismus. Das Weiß ist noch unverfestigt, glitzert in der Sonne, die sich schüchtern an den Wandfluchten vorbeischummelt.

Auf den langen Forststraßen, die uns in großem Bogen Richtung Ötscher bringen, wärmen wir uns auf. Die dicken Bergschuhe machen die Beine schnell schwer, die Gespräche genauso kurzatmig wie wir. Berge, Täler, Weltgeschehen. Am Rucksack klimpert der Pickel.


“Ihr machts auch den Kamm, stimmts?”. Harald schließt sich uns an. Zottiger Bart, dunkle Stimme, ein Einzelgänger. Viel zum Erzählen, viel erlebt.  Bergpartner Hans kennt den Rauen Kamm im Sommer. Ein etwas schärferer Wanderweg, keine nennenswerten Schwierigkeiten. Jetzt haben wir winterliche Einheimischen-Erfahrung. Macht sich nie schlecht im Rucksack.

Eiskalt erwischt

Eine Wegtafel kurz vor dem Einstieg in die steilen Serpentinen des Waldes warnt vor den alpinen Gefahren. Der Schnee ist nicht tief, aber bereits jetzt zeigt sich, dass das nicht das Problem werden wird. Denn unter dem lockeren Pulver hat sich eine dicke Eisschicht gebildet.  Eingefrorene Wurzeln gehören nicht zu meinem Lieblingsuntergrund.
Dann taucht er auf, der Ostgrat des Vaterberges. “Ötscher” kommt aus dem Slawischen, bedeutet übersetzt “Väterchen”. Väterchen Frost hat sich heute auch am Rauen  Kamm vergnügt. Gleich auf den ersten Metern werden wir eiskalt erwischt. Dicke Zapfen hängen von den Wänden.  Dabei war es gerade so schön warm in meinem Kopf, als Harald von seinem Sommerurlaub in Amerika erzählt hat. “Könnte ungemütlich werden”, kommentiert er trocken.
Aus dem Wald, auf den Ostgrat
Eiszeit auf dem Ötscher
Lange, eisige Querungen stehen an der Tagesordnung
Gleich die erste steilere Wand stellt uns vor Probleme. Steigeisen raus? Noch nicht. Die Tritte sind vereist, die Griffe von Schnee bedeckt. Fallen kann man im unteren Teil noch nicht weit, aber ein gebrochener Fuß macht sich unter dem Weihnachtsbaum auch schlecht. Ein uneleganter Spreizschritt hilft über die Stelle hinweg.
Der Ötscher-Ostgrat rückt näher
Der Untergrund ist nur schwer einzuschätzen. Der Fels ist glasiert. Wenn nicht, liegt eine unangenehme Schneeschicht darüber. Konzentration! Der Himmel so blau, wie schon lange nicht mehr. Keine Wolke trübt die Meeresspiegelung, die Luft ist klar, die Gedanken ganz am Berg. Leb die Sekunde, hat die deutsche Teenieband Tokio Hotel einst gesungen und tausende junge Mädchen haben lauthals gekreischt und in Gedanken an den schrillen Kleidern des Sängers gezupft. Das hier könnte das Musikvideo dazu sein.
Wir entscheiden uns direkt am Grat zu bleiben. Die Schwierigkeiten wachsen, aber auch die Sicherheit. Denn somit umgehen wir eingewehte Querungen.
Traumwetter auf dem Ötscher
Ötscher-Ostgrat direkt
Ich brauche lange, um eine kurze nordseitige Wand zu überwinden. Da passt der Fuß nicht hin, da greift die Hand nicht. Verdammt. Zwischenzeitlich der Blick hinab. Hier fällt man weit, das steht außer Frage. Was sich wohl die Gämsen denken würden, wenn ein Oberösterreicher an ihnen vorbeifliegt? So ein Blödsinn. Weg mit diesen Gedanken, her mit dem Mut!
Die nordseitige Stelle. Drei Meter, die es in sich haben

Geschafft. Steigt man aus dem Norden, landet man in der Sonne. Die Belohnung für die kurzen unsicheren Momente. Adrenalin in den Finger-und Zehenspitzen, ein gutes Gefühl im Bauch und den direkten Grat vor Augen.

Alles neu macht der Winter

Der Grat steilt sich auf
Westalpenfeeling im Ybbstal. Fast pervers, den Fast-Zweitausender mit den formschönen Eisriesen zu vergleichen. Doch die eingeschneite Gratschneide lässt keine anderen Gedanken zu. Ein großartiges alpines Erlebnis.
Die Ybbstaler Westalpen
Sieht leicht aus- ist schwierig.

Sogar die unschwierigsten Stellen können im Winter an den Nerven zehren. Da existieren diese gar nicht mehr. Zwischen den Klettereinlagen folgt tiefes Spurgelände. Kein Mensch auf dem Berg. Nur die, die gerade aus ihrem Auto steigen und den Rauen Kamm ins Auge gefasst haben. Die Zwei, die den Gipfel nicht erreichen werden.

Verspurte Ötscherfreude 
Unverspurte Ötscherfreude

Wir kommen dem Ausstieg näher. Nur mehr ein paar Felsaufschwünge, ein paar Mal ausweichen in die Nordseite und ein paar Mal die Luft anhalten. Die Sonne weicht den Schnee auf. Er rutscht wie ein Tellerbob. Besser, die Felsen zuvor freizuschaufeln. Maulwürfe im Tiefschnee.

Die letzten Meter auf dem Rauen Kamm

 

Die allerletzte Wand

Nach zweieinhalb Stunden Wühlerei erreichen wir das eingefrorene Routenbuch. Viele haben sich in den vergangenen Tagen hier nicht verewigt. Harald befreit es aus den eisigen Fängen.
Ein Blick heller Freude zum nahen Hochschwabmassiv, auch der Große Priel grüßt aus der Heimat. Über das Plateau schlurfen wir zum Gipfelkreuz des Ötschers. Einmal tief einsinkend, ein andermal erhobenen Hauptes.

Auf dem Gipfel ist es ruhig. Keine Fliegen, die um die Köpfe hunderter Seilbahnwanderer schwirren. Kein Duft, der uns vom Ötscherschutzhaus entgegenweht. Kein Geplärr, kein hektisches Kartenstudieren und Fernglasschauen. Nur wir drei. Und die Kälte. Darum abwärts.

Ötschergipfel im Winter 

Ende gut, nicht alles gut

Beim Abstieg können wir das Adrenalin in die Ybbstaler Alpen entfliehen lassen. Über die Pisten sausen wir im Eilschritt zurück nach Lackenhof. Jetzt dürfen wir auch noch auf den Skihängen die ersten Schwünge ziehen. Ganz ohne Bretter auf den Füßen.
Raureif nach dem Rauen Kamm

 

Back to life, back to reality
Beim letzten Blick auf den Grat, wissen wir nicht, dass es dort in wenigen Stunden mit der Ruhe vorbei ist. Der Berg verabschiedet sich mit einem feurigen Gruß, lässt den Horizont leuchten und mit weichem Orange auch die Kälte vergessen. Auf der Rückfahrt lärmen über uns bereits die Rotoren des Hubschraubers. Oft liegen nur ein paar Meter zwischen einem großartigen Erlebnis und einer bösen Lektion.