Akklimatisation, anders als geplant.


Überschreitung Weißmies


2.800 Höhenmeter, 27 Kilometer Wegstrecke






Von Moritz Mayer und Gabriel Egger








“Warum überschreiten wir den Berg nicht einfach? Ja, warum eigentlich nicht.  Außerdem kommen wir dann direkt am Lagginhorn vorbei. Das könnten wir ja eventuell auch noch mitnehmen.” Stimmt, könnten wir. 
 

Ein typischer bergaufundbergab- Dialog, denn unverhofft kommt bei uns leider zu oft. Wir befinden uns gerade mitten am Südanstieg zum 4.023 Meter hohen Weissmies- Gipfel im Schweizer Wallis. Gabriel hat gerade zum ersten Mal die 4.000er Marke überschritten und die Luft wird merklich dünner. Kurz überlegen wir ob wir wirklich ohne jegliche Geländekenntnis nach Norden absteigen sollen, doch eigentlich wissen wir die Antwort bereits. Warum nicht? Dann haben wir doch wenigstens ein bisschen mehr Abwechslung. Doch nun alles auf Anfang.

Gabriel ist müde von der Nachtschicht, die er noch kurz vor der Abreise hingelegt hat. Wie ein braves bärtiges Engelchen schläft er am Beifahrersitz, als ich gerade die Staatsgrenze der Schweiz passiere. Die Fahrt ins kleine, überteuerte Alpenland ist wie immer lange, sehr lange. Einzig und allein die sehr abwechslungsreiche Landschaft gestaltet die Autofahrt ein bisschen erträglicher. Am fast 2.500 Meter hohen Furkapass fahren wir durch einen Schneesturm und 15 Centimeter Neuschnee liegen neben der Fahrbahn, einige Kilometer später leuchtet das Grün der Schweizer Almen im Sonnenlicht.
Zermatt: 18km. Ein Straßenschild, das mir sehr bekannt vorkommt, durfte ich doch vergangenes Jahr einige schöne Tage dort verbringen. Wir biegen allerdings  in ein anderes Tal ein. Das Saastal ist unsere erste Anlaufstelle des heurigen Schweiztrips und wenig später werfen wir auch schon den Anker unseres vierrädrigen Wikingerschiffes am Campingplatz in Saas Grund aus.

Die Sonne geht langsam unter. Schnell bauen wir unser in die Jahre gekommenes Zelt auf. Um Regengüssen vorzubeugen, stellen wir ein Pavillion über das Zeltdach. Der ersten Nacht auf knapp 1.600 Metern steht also nichts mehr im Weg.Es ist fünf  Uhr morgens. Gabriel und ich wachen vom eigenen Schlottern der Zähne auf. “Wie kalt ist es bitte, es ist Juli?”, frage ich Gabriel. Wir steigen aus dem Zelt und trauen unseren Augen kaum. Es hat wirklich gefroren und feine Eiskristalle schmücken das Pavilliondach. Bis wir in die Gänge kommen, dauert es noch, bis die ersten Sonnenstrahlen die Viertausender-Gipfel berühren ebenfalls. Wir haben uns viel vorgenommen. Möglicherweise zu viel. Sieben Tage, drei Viertausender. Alle vom Tal aus, als Tagestouren. Weißmies, Dufourspitze, Mont Blanc. Das Wetter sollte uns einen Regenguss durch die Rechnung machen.

Sonnenaufgang auf dem Weg zur Almagellhütte

Moritz kennt die Anziehungskraft der hohen Berge, mich nimmt sie auf dem Weg von der Ortschaft Saas Almagell hinauf zur Almageller-Hütte voll ein. Die Sonne küsst die Berge wach, das sanfte Rot lässt mich beinahe wieder einschlafen.

Ein großartiger Tag kündigt sich an
Auch die Murmler fühlen sich wohl

Der Weg zur Almagelleralp auf 2.194 Meter Seehöhe ist ein echter Hingucker. Völlig unschwer zieht er sich durch wunderschöne Flora, vorbei an pfeifenden Murmeltieren und mit Blick zu den weißen Gletscherriesen empor. STS kommen mir in den Sinn. “Es is so anders als daheim”.

Ein bisschen nervös, werde ich schon, wenn ich daran denke, dass wir heute nur in den Winterlaufschuhen auf den Gipfel steigen wollen. “Ach, das geht locker”, hatte Moritz noch in der Früh verlautbart und sich die Schneeketten in den Rucksack gestopft.

Der Schuh, mit dem es gut aufs miese Weiß gehen soll

 

Das Berghotel Almagelleralp schläft noch, als wir eintreten

Beim Berghotel Almagelleralp rasten wir kurz, ordnen Gepäck und Gedanken. Die Vorfreude ist groß, in Worten gar nicht zu beschreiben. Es gibt diese magischen Grenzen für uns Bergsteiger. Einmal auf einem Dreitausender stehen. Einmal von einem Viertausender ins Tal blicken. Die Steigeisen in die Flanken eines Fünftausenders schlagen. Und so geht das weiter, bis sich manche plötzlich auf dem Everest wiederfinden. Völlig grenzenlos.

Der erste Blick zum Weißmies

Dann taucht das Weißmies auf. Weiß okay, aber mies? Ein herrlicher Gupf aus Eis, der in der Sonne glitzert. Fast so, als hätte ihn meine Schwester mit Glitter geschminkt- wie mich damals.

Auch die Wände links und rechts vom Weißmies können überzeugen
Die Begleiter auf dem Weg zur Almagllerhütte

Der Weg zur Almageller Hütte zieht sich. Rund um die hölzerne Hütte ist es ruhig. Nur ein Stein weist den Weg zum Gipfel. Die meisten sind hier bereits um vier Uhr früh los.  Als wir für einen kurzen Kaffee eintreten, springen die Zeiger der altmodischen Uhr, die in der Küche hängt, auf neun Uhr.

Das nahe Allalinhorn
Die Hütte liegt auf beinahe 2.900 Meter
Weißmies voraus!

Doch ganz so cool, wie wir glauben, sind wir nicht. Denn die Sonne strahlt unerbittlich auf den Hang und wir müssen uns sputen, um noch halbwegs erträgliche Schneeverhältnisse vorzufinden. Das nächste Ziel ist der Zwischenbergenpass auf 3268 Meter. Endlich geht es auf das weiße Gold. Die Szenerie fesselt, der Blick zum nahen Gardasee lässt das ohnehin verliebte Herz im Milisekunden-Takt schlagen.

Auf dem Weg zum Zwischenbergenpass
Ausblick vom Pass

Wir entscheiden uns erst weiter oben in den Südgrat einzusteigen und kämpfen uns mit Pickel bewaffnet die steilen Hänge empor. Immer wieder müssen wir kurz rasten und Luft schnappen. Wie das wohl auf einem Achttausender ist? Da wird immer geschimpft über die Touristen, die sich den Weg ebnen lassen. Gehen müssen sie ihn trotzdem erst einmal.

Über steile Hänge empor
Einstieg in den Südgrat

Der Südgrat entpuppt sich als wunderschöne, aber harmlose Blockletterei, unterbrochen von kurzen vereisten Stellen, die unser Schuhwerk aber vor keine Probleme stellen. Der zweite Schwierigkeitsgrad wird nie überschritten und wir erreichen in weniger als einer Stunde bereits den Firngrat, der luftig zum Gipfel führt.

Der Südgrat im Überblick
Die letzten Meter zum Gipfel des Weißmies

Obwohl der Piz Bernina mit seinem Biancograt bereits die “Himmelsleiter” für sich gepachtet hat, tun wir uns schwer, dieses Wort hier nicht in den Mund zu nehmen. Links und rechts der Abgrund, vor uns der Gipfel und ringsherum 4000 Gründe wieder hierher zu kommen. Die formschöne Gestalt des Allalinhorns, die Sonne, die in der kaltklaren Luft flimmert, oder die Schneehänge, unberührt, reizvoll, steil und lang. Die Häuser im Tal, die Menschen in den Supermärkten, der letzte Blick aus dem Zelt vor dem Schlafengehen. Wenn ihr euch jetzt eine Liste mit 4000 Gründen erwartet habt, kann ich euch beruhigen. Da würde sogar ich die Lust an unserem eigenen Bericht verlieren. Aber es gibt sie. Findet es selbst heraus.

Die Himmelsleiter

Nur wenige Meter unterhalb des Gipfels ist es soweit. Die Grenze ist durchbrochen. Anders fühle ich mich nicht wirklich, vielleicht ein bisschen stolz. Und zufrieden, Zufrieden mit dem Hier und Jetzt, mit dem eigenen Leben, die Zukunft vor Augen. Denn auch die Dufourspitze, unser nächstes Ziel, ist von hier aus gut auszumachen.

Moritz kurz vor dem Gipfel

Ein eisiger Wind erwartet uns auf dem höchsten Punkt, die Wärme im Herzen kann er nicht vertreiben. Sehr wohl aber uns vom Gipfel. Nach 15 Minuten steigen wir ab. Über die Nordseite und den Triftgletscher. Einfach, weil wir gerade Lust dazu haben. Die Freiheit des Bergsteigers.

Freude auf dem Weißmies-Gipfel

Erst bedächtig, dann im Laufschritt sausen wir über die steilen Flanken. Zuvor haben wir die Schneeketten auf die Schuhe montiert, gebraucht hätten wir sie nicht. Ungewöhnlich viele Gipfelaspiranten kommen uns auf dieser Route noch entgegen. Einige, die gerade absteigen, sind mit dem Terrain nicht vertraut. Ein französischer Bergführer bekommt das am eigenen Leib zu spüren. Er muss zwischensichern, immer wieder Eisschrauben in den Gletscher dreschen, um seinen Klienten mehr Sicherheit zu geben.

Abstieg über die Nordseite
Im Laufschritt über den steilen Gipfelhang

Er tut gut daran, sich Zeit zu lassen. Den Bergsteigern kann man die Angst von den Augen ablesen. Dann passiert es. Eine junge Frau rutscht aus, die Steigeisen greifen nicht im flockigen Schnee. Das Seil hält. “Watch out“, brüllt der Franzose. Wir überholen nicht, auch wenn der Wind uns die Kristalle ins Gesicht fegt und die Wärme langsam aus den Fingerkuppen weicht.

Ich verstehe sie ja. Es ist unglaublich schön da oben. Aber sie müssen doch wissen, auf was sie sich einlassen. Das ist kein Spaziergang, auch wenn das Weißmies als einer der leichtesten Viertausender gilt. Vielleicht ein schlechter Tag? Pauschalisieren ist immer schlecht. Im Tal und auf dem Berg. Wir sind trotzdem froh, als wir endlich vorbeilaufen können. Gletscherspalten tun sich vor uns auf, mächtige Seracs hängen über die steilen Flanken. Das ist die wilde Natur. Atemberaubend.

Abstieg über den Triftgletscher
Wir erreichen wieder flacheres Gelände

Der Zauber endet, wo der Tourismus beginnt. Bei der Bergstation Hohsaas (3.010m) kommen uns Japaner in Fotolaune entgegen. Viel schneller als erwartet stehen wir bei der Weißmieshütte auf 2726 Meter Seehöhe. Das Lagginhorn sparen wir uns, genauso wie unsere Kräfte. Die Dufourspitze sollte ohnehin zur Zerreißprobe werden.

Während die Schweizer Flagge im Wind weht, lassen wir uns von der Sonne streicheln. Der Abstieg ins Tal ist noch lange, kann uns aufgrund der großartigen Überschreitung nicht verstimmen. Bier um sechs Euro und ein paar Würstel, die ob ihres Preises wohl im Goldsaft gebraten wurden, füllen die Speicher auf und wir sausen zurück nach Saas Almagell. Nicht einmal acht Stunden haben wir für die Tour benötigt. Schön, wenn ein Plan aufgeht.

Welcome to Switzerland!

Ein letzter Blick zurück zu meinem ersten Viertausender. Auch wenn es nicht die anspruchsvollste oder schönste Tour in meinem Bergsteigerleben war, werde ich mich daran erinnern. Ein Leben lang. Genauso wie an die erste Liebe, den ersten Kuss, das erste mal “Ich liebe dich” und das erste Mal Verlassen-werden.

Eines wollten wir nach der Tour aber nicht mehr verlassen. Die Schweiz. Dafür gibt es 4000 Gründe.

Danke, Weißmies!