Das Tal ist ein Elend. Von oben herabgesehen. Aber auch jetzt, mitten darin, fühlt es sich miserabel an. Obwohl das Elendtal, durch das wir uns seit zwei Kilometern schieben, klein ist, haben wir große Probleme, uns nicht zwischen den gewaltigen Flanken der Großarler Größen zu verlieren. Weil wir ausgebrannt sind. Von den Anstiegen, die hier, in der Südflanke des Keeskogels, ihren Abschluss finden. Und von der Sonne, die erst am späten Nachmittag schüchtern den Wolkenvorhang vorgezogen hat. Mehr als acht Stunden ist es her, dass wir zu Rotzbuben geworden sind.

Auf dem großen Parkplatz im Talschluss von Hüttschlag, 230 Kilometer von unserem Basislager in Linz entfernt, weht uns eine kühle Märzbrise entgegen. 7 Uhr, noch läuft nur die Nase. Aber wir sollten es auch bald tun, wenn wir abschwingen wollen, bevor die Dämmerung die weißen Hänge im Pongau orange färbt. 34 Kilometer und 3300 Höhenmeter sind es, bis sich der Kreis schließt. Anita heißt die Runde, die uns den ganzen Tag beschäftigen wird. Costa Cordalis hat sie zwar nicht besungen, Norbert Asen dafür beschrieben. In seinem Tourenführer “Skitourenerlebnis- Zwischen Dachstein und Kitzbüheler Alpen” wurde sie vor 21 Jahren zum ersten Mal erwähnt. Und mittlerweile ist sie auch in digitaler Form bei  unseren hoppelnden Kolleginnen zu finden. Norbert Asen hat die Tour nach seiner Frau benannt. Wer einmal auf Anita abgefahren ist, weiß, dass er ihr damit ein großes Kompliment machen wollte.

Der Abschluss ist am Anfang bereits vor Augen: der Keeskogel.

Was die Länge der Tour betrifft, sind wir grün hinter den Ohren. Sogar ein bisschen grüner als die Wiesenhänge, in deren gefrorene Erde wir die Spitzen unserer Skischuhe schlagen. Modus: Packesel. Vorerst. 350 Höhenmeter sind es, bis die Unterlage eine Auflage erlaubt. Auf der Forststraße zur Kreealm laufen wir lang. Scharf geschossen wird nicht. Weil uns für einen Biathlon das Kleinkalibergewehr fehlt und  Energiesparen ohnehin das Gebot der Stunde ist.

Nach dem Haseckgraben erlaubt ein lichter Lärchenwald dann aber doch die ersten Spitzkehren des Tages. Wo Costa Cordalis summt, ist Peter Maffay nicht weit. Zum Glück sind es aber nicht sieben Brücken, über die wir gehen müssen. Wir kommen mit einer aus. Dann weitet sich das Kar. Als Mureck und Schöderhorn auftauchen, sind wir noch Schattengestalten. Für die ersten Sonnenstrahlen braucht es noch einige großzügige Kehren im sanften Gelände des Kreekars. Ausgefeilte Spitzkehrentechnik braucht hier niemand. Ein Hochgenuss. Vor allem, wenn es talwärts ginge. Nur blöd, dass wir hier nicht abfahren werden. Der Großglockner beäugt uns aus der Ferne, Schareck und Sonnblick wagen den Seitenblick.

Über eine Brücke musst du gehen, 3400 Höhenmeter überstehen.

1400 Höhenmeter sind es bis auf den ersten Gipfel. Eine Tagestour zum Aufwärmen. Die erste von vielen Entscheidungen fällt in der Scharte zwischem Kleinen Mureck und Schöderhorn. Welcher der beiden darf’s denn sein? Die Bescheidenheit haben wir im Tal zurückgelassen, wir nehmen beide. Über seine Ostseite steigen wir dem Schödernhorn aufs Haupt. Der trägt trotz Kälte eine Stoppelglatze. Der Wind hat ihn rasiert. Mit den Harscheisen teilen wir unseren Ausblick aber trotzdem nicht. Die intimen Blicke auf Hochkönig und Hochalmspitze gehören uns heute ganz alleine.

Spitzkehren sind im Kreekar zwar notwendig, spitz müssen sie allerdings nicht sein.

Die erste Abfahrt des Tages ist kurz. Fast zu kurz, um sie wirklich Abfahrt zu nennen. Es ist ein Abschwung, zurück in die Scharte. “Schleicht’s euch dorthin, wo ihr hergekommen seid”, höre ich das Schöderhorn in meinen Gedanken schreien. Da passt das mit der Stoppelglatze gleich noch besser.

Wer jetzt murrt, darf sich beruhigen: Das Mureck ist auf der Anita-Runde keine Pflicht. Nur die Kür. Bei einer Abfahrt über die Südseite des Schöderhorns, lässt sich das Eck ohne Abschweifen aussparen. Wollen wir aber nicht. Weil die Euphorie genauso stark ist, wie die Beinmuskulatur. Noch.  Und weil es wirklich nur ein paar wenige Höhenmeter sind.

Auf dem Schöderhorn (2475 Meter) wird gleich wieder für die Abfahrt gepackt.

Nur ein paar Minuten liegen zwischen Schöderhorn und Mureck (2402 Meter). 

Viel Zeit lassen wir uns nicht. Wir kennen die Frühjahrssonne und wissen, dass ihr das mit den Energiepreisen ziemlich an den Strahlen vorbeigeht. Sie heizt trotzdem ein. Und wenn sie das in ein paar Stunden in der steilen Südseite des Keeskogels tut, dann wollen sich auch die schneebedeckten Flanken ausziehen. Also besser keine Minute vergeuden. Abfellen, runterrutschen, anfellen. Und weiter geht’s. Die Schmalzscharte liegt direkt vor uns. Viel Schmalz in den Beinen brauchen wir dafür nicht, vorausgesetzt wir können uns oben halten. An der Schneedecke sowieso, aber auch am oberen Rand des Kars, das wir durchgleiten müssen.

Wir gleiten der Schmalzscharte entgegen

Schmalzgeher wurden jene genannt, die einst fordernd über die Scharte nach Großarl abstiegen. Wer sie sah, nahm Reißaus. Oder musste mit Butter bezahlen. Wer das nicht tat, wurde mit einem Fluch belegt. Zumindest erzählen sich das die Almbesitzer dort oben. Heute können sie beruhigt sein. Flüche stoßen wir nicht aus. Dafür ist es an der Schmalzscharte noch zu früh. Aber es gibt  Lobeshymnen. Für das schicke Albert-Biwak, das hier mitten im Blockwerk steht. Sechs müde Tourengeher würden darin Platz finden. Gut schlafen werden sie nur bei optimalen Schneeverhältnissen. Die Lawinengefahr in diesem Bereich ist nicht von den Skiern zu weisen.

Der Blick auf den Unteren Schwarzsee wird frei. Oder er würde von hier frei werden. Wirklich zu sehen bekommen wir ihn nicht. Eine dicke Schneeschicht liegt über dem Wasser. Wie dick die Eisschicht darunter ist, wollen wir lieber nicht wissen. Die Sonne macht ihre Arbeit gut. Abfellen, die Dritte. Die Mundwinkel ziehen sich nach oben, vor Freude, ein bisschen aber auch vor Schmerz. Wo der Schuh drückt? Hinten links und hinten rechts. Blasenpflaster, ein willkommenes Placebo. Der Schnee ist hier weich, aber zum Glück noch weit entfernt von jener Form, die es auch in Aspik gibt. Sulz schmeckt weder gut, noch lässt es sich gut darauf fahren. Zumindest Letzteres ist objektiv.

Wir müssen den Hang über dem Unteren Schwarzsee steil queren, bevor wir uns genauso steil an sein Ufer schwingen können. Der Firn beflügelt uns, für die Abfahrt hätten auch wir Schmiergeld an die Schmalzgeher zahlen müssen.

Die steile Querung vor der Abfahrt

Rückblick auf die Querung und Abfahrt über dem Unteren Schwarzsee

Schön wär’s, hier am Ufer, zu entspannen. Auch ohne Badetuch. Aber wir müssen weiter – und zwar ordentlich. 500 Höhenmeter sind es ab hier, bis wir am hölzernen Kreuz des Weinschnabels abschlagen können. Ob bei der Namensfindung ein paar Spritzer-Weiß zu viel geflossen sind? Ein Entrinnen gibt es jedenfalls jetzt nicht mehr. In der Rinne, die sich bald zur Mulde weitet, dürfen auch die Harscheisen das Dunkel des Rucksacks verlassen. Dann fehlt Christoph plötzlich ein Ski. Er saust an mir vorbei, stellt sich quer und bleibt an einem Felsen, direkt vor dem Abbruch, hängen. Gerade noch rechtzeitig. Sonst wär’s ein schöner Gleitschirmflug ins Tal geworden. Nur ohne Gleitschirm. Und wir hätten die Tour wohl abbrechen müssen, wenn wir uns nicht sofort von Tourengehern zu Winterbergsteigern verwandelt hätten. Ein kurzer Rutsch auf den Fellen genügt und Christoph kann wieder mit beiden Skiern im Leben stehen. Es geht weiter.

Aufstieg in der harten Rinne, die bald deutlich breiter wird.

Der Gipfelhang des Weinschnabels

Mehr als 2000 Höhenmeter haben uns unsere Beine bis hierher getragen. Der Kölnbreinspecher taucht auf, glänzt in seiner Paraderolle als Fjord des Großarltals. Auch der Keeskogel zeigt sich, allerdings ziemlich unnahbar. Als wären wir gerade erst aufgebrochen. Auf dem Weinschnabel lässt sich die Tour noch verkürzen. Eine Abfahrt durchs Schödertal, eine Heimfahrt vom Parkplatz im Talschluss. Dann würden wir uns aber um die steile Firnabfahrt an das Ufer des mächtigen Speichers bringen. Also einfach nur kurz rasten-  klingt besser. Wie es weitergeht, können wir nicht genau sagen. Eine Jagdhütte müssen wir erreichen, oder zumindest aus der Nähe betrachten, das wissen wir. Dann sind wir richtig.

Der erste Schwung hält nicht das, was die Sonnenstrahlen versprachen. Der Untergrund ist hart. Der zweite Schwung macht’s nicht besser. Doch aller guten Dinge sind drei. Die restlichen 750 Höhenmeter fahren wir auf Frühjahrsfirn. Einmal ab, später quer. Die Jagdhütte ist erreicht, wir rutschen noch weiter den Südhang entlang, bevor wir am Ufer abschwingen. Die steilen Flanken, die in der Sonne schwitzen, machen uns keine Freude. Aber noch viel weniger Freude haben wir mit dem Speicherufer. Das zeigt seine Zähne- und die befinden sich bekanntlich in Mäulern.

Die ersten Schwünge Richtung Kolbreinspeicher sind noch hart.

Spätestens ab hier wird ein Traum aus Firn geträumt.

Leicht rechts der Bildmitte der Weinschnabel. Hier muss der Südhang steil gequert werden.

Kein Gelände, in dem wir gerne länger bleiben würden. Fischmäuler unter uns, durchfeuchtete Hänge darüber. Schnell und trotzdem behutsam müssen wir ans Ende des Speichersees gelangen. In den vergangenen Tagen haben bereits Teile des Hangs für diesen Winter ausgedient, sie liegen im entleerten Speicher.  Lawinenknollen erschweren den Quergang. Nur nicht abrutschen hier.

Auf den Steinplatten des Speicherteichs öffnen sich Fischmäuler.

Über Lawinenknollen müssen wir den Ausstieg ins Kleinelendtal erreichen.

Dort, wo der Speicher enger wird, müssen wir aussteigen. Rechts hinauf ins Tal des kleinen Elends. Steile Spitzkehren sind dafür notwendig. Christoph erledigt das geschickt. Ich auch. Nur ohne Spitzkehren. Mit den geschulterten Ski, wate ich zu Fuß durch den tiefen Frühjahrsschnee. Warum, weiß ich heute nicht mehr. Bequemlichkeit kann’s nicht gewesen sein. Vielleicht Blödheit. Wir sind matt. Und haben noch immer viel zu tun. Aber zunächst müssen wir zwei Kilometer lang schieben. Zuerst noch mit der Sonne im Gesicht, bald mit den Wolken vor Augen.

Ausstieg ins Kleinelendtal

Knapp zwei Kilometer lang machen wir kaum Höhenmeter

 

Zumindest verschwinden hier unsere Zweifel. Die Südseite des Keeskogels ist steil, die Zeit weit fortgeschritten. Jetzt, wenn die Wolken dominieren, nässt sich die Schneedecke zumindest nicht mehr weiter ein. Nur wir, vor Angst. Weil es noch immer so weit ist. Im Kleinelendtal bleibt viel Zeit, um nachzudenken. Aber die Gedanken bleiben hier, in der Einsamkeit. Wir haben den ganzen Tag niemanden getroffen, verlieren uns in der Weite, gewinnen durch enge Spitzkehren an Höhe. Aber erst dort, wo wir endlich  in die Südflanke abzweigen. Noch einmal müssen die Blasenpflaster frische Luft schnappen, bevor sie von Käsefüßen erstickt werden. Die Füße schmerzen, das Herz pocht.

Irgendwo da oben muss die Kleinelendscharte sein. Von dort ist es nicht mehr weit, vielleicht 200 Höhenmeter. Dann stehen wir auf dem Keeskogel. Der Weg dorthin ist mit Spitzkehren gepflastert. Und dann mit Steinen. Kein Rüberrutschen, wir müssen abschnallen. Die Querung zur Scharte, direkt unter der Südwand des Keeskogels,  ist ein Fußmarsch. Bilder davon gibt es nicht. Denn jetzt müssten sich die Almbesitzer in der Schmalzscharte fürchten: Wir fluchen.

Aufstieg zur Kleinelendscharte

Der letzte Aufschwung zur Scharte lässt wieder Skitourensport zu. Obwohl wir uns hier auch mit Schlittschuhen wohl fühlen würden. Mühsam, mit mehr als 3000 Höhenmeter in den Füßen, schieben wir uns so weit, bis wir mit dem Normalaufstieg zum Keeskogel zusammenstoßen. Der Zusammenstoß forderte keine Verletzten.

Dann rammen wir die Ski in den Schnee. Zumindest versuchen wir es. Hier ist es noch immer eisig. Oder schon wieder? Der Grat auf den Keeskogel, der kurz luftig, aber nicht schwierig ist, hat sich nicht für uns erwärmen lassen. Steigeisen wären hier gar nicht so verkehrt. Mit haben wir sie nicht.

Der kurze Grat  auf den Keeskogel

Die Stufen, die Tourengeher vor uns in den Schnee geschlagen haben, sind tief und hart. Es sind nur wenige Höhenmeter, aber mein Kopf macht mehr daraus. Ich brauche lange. Christoph sieht es gelassener. Kurz um einen Felsen herum, ein schneller Balanceakt, dann verflacht sich der Grat. Auf dem Gipfel ein Rückblick: Auf das Schöderhorn, den Weinschnabel und dieses elendige Tal. 3400 Höhenmeter braucht es, damit Gott barmherzig ist.

Der Gipfel des Keeskogels.

Der Blick vom 2.884 Meter hohen Gipfel- der höchste im Großarltal

Behutsam steigen wir zum Skidepot ab. Eigentlich wollen wir uns nur noch in den Schnee setzen, ein Lagerfeuer entzünden und im Knistern der Flammen einschlafen. Schade, dass offene Feuer hier verboten sind.  Noch fehlen 1900 Höhenmeter- bergab. Pulverschnee werden wir  jetzt nicht mehr finden. Aber einmal noch durchbeißen, dann ist der (Harsch-)Deckel drauf. Über das Gstößkees fahren wir dem Ende entgegen. Nicht unserem, aber jenem dieses Gewaltakts. Als wir die Flanke unterhalb des Keesnickelkogels queren, fällt uns ein, dass wir uns besser durch das Gstößkar gestoßen hätten. Auf dem Weg zur Modereggalm müssen wir noch einmal gegenansteigen. Auch schon egal.

 

Abfahrt zurück in den Talschluss von Hüttschlag

Und ein Rückblick auf die (h)arschige Abfahrt

Die Modereggalm ist erreicht. Dann sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Ein Slalom beginnt. Gold werden wir hier nicht gewinnen, Silber und Bronze auch nicht. Höchstens blaue Flecken. Denn langsam macht es auch der Schnee unseren Kräften nach: Er wird weniger. Ein Ziehweg bringt uns zum letzten Hang des Tages. Dann schließt sich der Kreis.

Nach einem Waldslalom wird die Auflage dünner.

Der Parkplatz im Talschluss ist zum Greifen nahe. Wollen wir jetzt noch abschnallen?

 

…….noch nicht

Elf Stunden zeigt die Uhr an, als wir dann doch die Ski abschnallen. Hätte die Sonne nicht schon nachmittags ausgestempelt, die Hänge im Pongau würden mit Sicherheit schon orange leuchten. Wir sind glücklich. Musikanten herbei, spielt ein Lied für uns Zwei! Was für eine Runde. Und was für ein Gestank. Denn mittlerweile haben wir die Skischuhe gelüftet. In den Laufschuhen fühlt es sich an, als würden wir auf Watte gehen. Jetzt nur noch heimfahren. Im Gepäck das Wissen, warum alle auf Anita abfahren. Zumindest alle, die sie kennen. So viele sind das nicht. Schön, dich kennengelernt zu haben. Wenn auch nur für einen Tag.

 

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