Wäre die Kaltenbachwildnis ein Königreich, er wäre das Oberhaupt. Zwei Besteigungen pro Jahr weist der Brandkogel durchschnittlich auf. Vor 100 Jahren war das anders. Wegen eines jungen Mannes.

Von Gabriel Egger








Er wollte es beweisen. So dringend, dass es ihm gleichgültig war, ob das letzte Licht des Tages nicht mehr reicht, um die dunklen Wände auszuleuchten. Gmunden war gerade erst zur Kurstadt ernannt worden, Erholung gab es für ihn trotzdem nicht. Nicht so lange, bis seine Theorie endlich Hand und Fuß hatte.

Toni Leitner war ein einfacher Holzknecht aus dem Salzkammergut. Unauffällig, freundlich, ohne große Ambitionen. Bis auf eine: diesen einen Beweis. Er war sich sicher, als er gegenüber auf dem Westufer des Traunsees stand. Er war sich auch sicher, als er von oben hinabschaute, auf die Wanderer, die dem ausgeschilderten Weg über den Hernlersteig folgten, der erst vor wenigen Wochen eröffnet wurde und den er ab sofort nutzen konnte, um auf “seinen Gipfel” zu gelangen. Er war davon überzeugt, so fest wie der Felsen, auf dem er zum 140. Mal stand. Der Brandkogel bewegt sich. Er neigt sich Richtung Traunsee. Woche für Woche. Monat für Monat. Jahr für Jahr.

Der erste Weltkrieg kam, Gmunden wurde zur Lazarettstadt. Doch Toni Leitner hatte sein Ziel nicht aus den Augen verloren. Zwischen 1900 und 1940 bestieg er den Brandkogel nicht weniger als 600-mal. Um zu beobachten, um zu messen. Er verklemmte in den Felsspalten Holzkeile und spannte dazwischen Drähte. Wenn man ihn fragte, sagte er : “Gewiss, bewegt er sich. Du musst ihn nur beobachten”. An den Kerben in den Holzkeilen sei es deutlich abzulesen. Viele hielten ihn für einen Spinner, einer, der nicht mehr wusste, was er mit seinem Leben anfangen soll. Toni Leitner selbst hatte sich in einer schwierigen Zeit, in der die Versorgung der Bevölkerung immer schlechter wurde, einen Sinn geschaffen: den Brandkogel. 980 Meter hoch, südlich des Hernlersteiges.

Der Brandkogel  mit der glatten  “Teufelswand”

100 Jahre später

Jung, motiviert, ein Bursch vom Land und oft seltsame Ideen. Ein zweiter Toni Leitner ist Moritz zwar nicht, aber er prescht mit der gleichen Begeisterung der weiß-leuchtenden Westwand des Brandkogels entgegen, wie es einst der Holzknecht tat. Klettern ist hier strengstens verboten, aber träumen darf man.
Die Abschlussfeier der Gmundnerhütte ist ein guter Anlass, um sich auf Spurensuche zu begeben. Auch, wenn diese längst verwischt sind. Spätestens vom heutigen Regen, der sich gemeinsam mit den dichten Wolken langsam über die Hohe Schrott nach Westen zurückzieht.
Auf dem Hernlersteig bewegen wir uns schnellen Schrittes unserer ersten Neuentdeckung entgegen. Zwei Brüder finden ihren dritten. Obwohl finden muss man den Dreibrüderkogel nicht, er zieht mit seiner Gestalt ohnehin jeden Blick auf sich.
Der Dreibrüderkogel- mit gewählter Linie (IV)
Die schlanke Felsnadel in knapp 700 Metern Seehöhe wies in den 60er Jahren noch mehr als 100 Besteigungen pro Jahr auf. In den 70ern waren es nur noch zehn. Heute sind es oft noch weniger.
Doch jetzt klimpert es wieder beim Einstieg. Gurt, Karabiner, Sicherung. Alles da. Los geht’s. Anfangs gibt sich der Dreibrüderkogel wenig familiär. Denn er drängt Moritz unter einem Überhang gleich nach außen.
Aber wie das so ist unter Brüdern, wird schnell verziehen und Moritz gelangt über eine Platte unter einen zweiten Überhang. Hier kann man nach links in leichteres Gelände queren .Tut Mann aber nicht. “He, ich seh’ da keine Haken mehr”.  Den Quergang zu hoch angesetzt, wird aus dem Normalweg (II-III) ein Abnormalweg (IV).
Weil es aber ohnehin nur 30 Meter sind, kann ich schnell nachkommen und wir stehen gemeinsam auf dem schlanken Gipfel der Felsnadel. Ein paar Kilo mehr würden ihr sicher nicht schaden.
Eine Seillänge ins Glück
Zwanzig Minuten lang haben wir viel Luft unter dem Hintern, bevor Moritz mir unter meinem Feuer macht und wir abseilen.

Brandkogel setzt (sich) in Bewegung

Wieder Traunsteinboden unter den Füßen, schweift der Blick zuerst zur Kleinen Hefenstelle. Vor 14 Jahren verschwand dort der 19-jährige Maturant Romeo B. spurlos. Der Traunstein ist  ein guter Autor. Er schreibt viele Geschichten- und einige behält er für sich. Innehalten. Nachdenken.
200 Höhenmeter weiter oben sind die Gedanken wieder in der Höhe, schließlich  hat man hier den Dachstein im Blick. Beim Dachsteinblick, in 1023 Meter Höhe, beginnen sie, die großen Fußstapfen des Toni Leitners.
Ein alter längst aufgelassener Teil des Hernlersteiges, der durch Balken abgesperrt ist, markiert den Einstieg in die spannende Geschichte. Der Steig wird schmal, das Gras höher.
Der Brandkogel vom alten Teil des Hernlersteiges gesehen
Wo die Bäume weniger werden, beginnt ein kurzer Grat, der uns tief ins kalte Traunseewasser blicken lässt. Ob der Leitner Toni  dafür überhaupt noch Augen hatte?
“Halt, abseilen”, sagt Moritz und befestigt das Seil an zwei robusten Bäumen, die nicht wirken, als würden sie uns nach dem Leben trachten.  Was aussieht wie eine antike Steinschleuder, bringt uns hinab in die Brandkogelscharte. 20 Meter  über steiles, schroffes Gelände. Oben, am Rücken, liegt ein altes Seil. Nass, dreckig, nicht vertrauenswürdig. Man kennt ihn also noch, den Brandkogel.
Zuerst am Grat entlang…
…..bevor es hinab in die Scharte geht
Der Blick  aus der Scharte 
Über leichtes Klettergelände (II) steigen wir der Großen Hefenstelle, wie der Brandkogel in den Kletterführern genannt wird, entgegen. Am Gipfel bin ich kurz enttäuscht. Keine Überbleibsel von Toni Leitner. Keine alten Vermessungszeichen, nichts. Nur ein Gipfelbuch, das an seine Erstbesteigung erinnert. Der Enttäuschung folgt große Zufriedenheit. Dritter Eintrag des Jahres, zwei davon stammen von bergaufundbergab. Ein exklusiver Ort. Ich habe das Gefühl,  meine Füße stehen am Ufer so senkrecht fällt die Teufelswand in den See ab.
Das Gipfelbuch erinnert an Toni Leitner
Auf der Großen Hefenstelle 
Hier muss er also gesessen haben. Mehr als 600 mal. Mit diesem großen Ziel, das für die Nachwelt völlig sinnlos erscheint. Offiziell anerkannt wurden Toni Leitners Vermessungen nie. Bis zu seinem Tod war er davon überzeugt, dass sich der Berg bewege. Und der Brandkogel hat bewegt. Uns. Hinauf auf einen Gipfel, den wir sonst immer rechts liegen gelassen haben, wenn wir über den Hernlersteig nach oben gepfiffen sind. Also Toni, gut gemacht.
Anmerkung: Wie der Traunstein, behalten auch wir manchmal Geschichten für uns. Die der Abschlussfeier zum Beispiel 😉