Er hatte 14 Stunden gebraucht. Um einen Weg zu finden, durch dieses Labyrinth aus Bändern, Rampen und Platten. Als Johann Grill aufbrach, war der Watzmann noch nicht auf der großen Freiluftbühne angekommen. Sein Grat war kein Laufsteg, seine Silhouette noch nicht das formschöne Gesicht einer Werbekampagne. Und in St. Bartholomä konnte man die Blätter fallen hören.
Bis der Kederbacher kam. Grill, der nur mit dem Namen seines Hofes, dem Kederbach-Lehen in Ramsau am Königssee, gerufen wurde, stieg mit dem Wiener Otto Schück am 18. Juni 1881 durch die Ostwand des Berges. Weltberühmt wurden sie danach nicht. An der Wand aber blieben die Superlative haften. Das lag nicht an den großen Kletterschwierigkeiten und auch nur bedingt an ihren Dimensionen. Die höchste Wand der Ostalpen, 1800 Meter, vom Königssee zum Gipfel: beeindruckend, ja. Aber vielmehr waren es die Unfälle, die der Watzmann-Ostwand schlussendlich diesen abgenutzten Zusatz einbrachten: Mythos.
Der Müncher Christian Schöllhorn war der erste. 1890, abgestürzt in die Randkluft, die sich zwischen Wand und Eiskapelle gebildet hatte. Und der israelische Urlauber, der im August 2019 über die Wasserfallwand stürzte, war der bislang letzte. Dazwischen: mehr als 100 Todesopfer.
Viele von ihnen hatten sich verstiegen, waren in dieser großen, unstrukturierten Wand in schwieriges Gelände geraten. Genau das sollte uns nicht passieren. Aber genau das passiert gerade.
Weg vom Weg
Das kann einfach nicht mehr stimmen, denke ich, während ich nervös am Band meines Helmes zupfe. Die Felsstufe war zu schwierig, der Puls zu hoch für diesen vermeintlich leichten Abschnitt. Hans versucht zu beruhigen. “Da war eben noch ein Stand, das passt schon”. Aber es passt nicht. Mir passt es nicht. Keine Experimente, habe ich mir geschworen. Zuviel habe ich über diese Wand gelesen, um mir mehr als das, was mir die vom Schweiß durchnässte Topo in der Hosentasche sagt, zuzutrauen. Berchtesgadener Weg, ohne Varianten.
Die Seilschaft, die im Schuttkar wartet, beäugt uns kurz, und wendet sich nach rechts. Nach rechts. Also sind wir, die hier gerade über die Wandstufen empor geklettert sind, falsch. Der Hubschrauber fliegt durch meinen Kopf. Er holt mich ab und setzt mich auf der großen Wiese neben der Wallfahrtskirche in St. Bartholomä ab.
“Komm jetzt, wir queren einfach oberhalb zurück”. Christoph steigt vor, das Gelände ist nicht besonders schwierig. Dritter Schwierigkeitsgrad vielleicht. Aber brüchig. Wie konnte das passieren? So gut waren wir vorangekommen. Mit dem ersten Boot über den Königssee, in dem Touristen verzweifelt versucht haben, das Echo des Flügelhorns mit der Kamera einzufangen und doch einsehen mussten, dass Töne nicht auf Fotos passen. Und auch den Einstieg bei der Eiskapelle haben wir auf Anhieb gefunden. Rippen, Kanten, Schrofen, Bröselrinnen. Alles kein Problem. Und jetzt? Haben wir uns leiten lassen. Von der Euphorie. Angesteckt vom Ostwandfieber.
Eine grasige Rinne, ein abdrängender Block. “So, passt wieder”, sagt Christoph. Und Hans lächelt. Mein Kopf hat’s übertrieben. 150 falsche Höhenmeter waren Warnung genug. Die Wolken verdichten sich, lassen der Sonne kaum Platz uns aus der Wand zu heizen. Und auch sonst geht es an diesem September-Vormittag nicht sonderlich heiß her. Drei Seilschaften, der Rest ist längst irgendwo über uns. Der Vorteil eines “späten” Aufbruchs. Der Nachteil: Zu viele solcher Verhauer dürfen wir uns nicht mehr leisten. Durchschnaufen, weiter geht es. Immer der glatten Wand über unseren Köpfen entgegen. Der Schlüsselstelle, zumindest mental. Auch von der Wasserfallwand habe ich viel gelesen. Im Regelfall nichts Schönes.
Zuerst müssen wir uns aber über ein Felsband schummeln, das unsere Hintern über den Abgrund drängt. Es folgt Plattenkletterei, die Schuhe reiben sich am Fels. St. Bartholomä ist nur noch ein kleiner Farbfleck in diesem beeindruckenden Landschaftsgemälde.
1670 Meter. Immer noch mehr als 1000 Höhenmeter, bis die Glocke läutet. Jene, die am Gipfelkreuz der Watzmann-Südspitze angebracht ist. Erster und zweiter Sporn liegen hinter uns. Anregende Kletterei, wenig schwierig, aber beeindruckend. Wie klein wir doch sind und wie groß wir uns aufspielen. Im Büro, oder im Internet. Drei kleine Punkte auf dem Weg nach oben.
Vor der Wasserfallwand wird mein Rucksack leichter. Das Seil, das seit mehr als zwei Stunden im Dunkeln wartet, darf jetzt auch Ostwand-Luft schnuppern. Die Kletterei im dritten Schwierigkeitsgrad wäre auch ohne machbar. Aber uns ist wohler mit dem Strick. Denn wer hier fliegt, fliegt weit. Und das nehmen die Steine in der Wand besonders ernst. Immer wieder hören wir von oben laute Schreie. “ACHTUNG, STEIN”. Lautes Krachen. Dann Stille. Besser wir fliegen ins Seil, als an den Wandfuß.
Die Boje im Felsenmeer
Christoph steigt vor. Es ist verdammt glatt hier. “Eisig”, sagt der Goiserer. Das Gelände ist anfangs kaum gestuft, lässt sich mit der Kraft der Reibung aber gut bewältigen. “Stand”. Ich komme nach. Immer wieder gibt es kleine Griffe, in die ich meine Finger klemmen kann. Meistens müssen aber die Füße arbeiten. Hans bildet das Schlusslicht. Sieht gut aus bei ihm. Zumindest besser als bei mir. Die Nervosität werde ich erst auf der Südspitze ablegen. Nach 80 Metern verschwindet das Seil wieder in der Dunkelheit. Für heute wird es die ewige Dunkelheit sein.
Es kommt zu einem Rechtsruck. Nicht politisch, aber im Gelände. Und der ist dringend notwendig, will man nicht in der Rampe unter der Gelben Wand und damit in schwierigem, brüchigem Gelände landen. Zu viele Bergsteiger mussten hier bereits den Abstieg mit dem Hubschrauber antreten. Habe ich schon erwähnt, dass ich zu viele Einsatzberichte lese?
Das Band führt uns direkt über den Königssee. Zumindest fühlt es sich so an. Dann glühen wir wieder. Die Rinne, deren Fels ähnlich kompakt wie unser Lächeln ist, entfacht das alte Fieber wieder. Tritte und Griffe- all you can catch.
Es folgt ein weiterer Quergang über dem Königssee, bevor es wieder ernsthafter wird. Und vor allem ausgesetzt. Zwei Stellen im dritten Schwierigskeitsgrad haben sich hier in die Platten geschummelt. An der einen bemerke ich meine fehlende Armkraft, die andere bemerke ich gar nicht. Und auch die zwei Kletterer, die schwer bepackt aus dem Münchnerweg (IV) zu uns stoßen, sehe ich erst, als sie vor mir stehen. Fieber, eben.
Brotzeitplatz. Wenn er schon so heißt, dann lass’ uns das auch machen. Noch ist es zu früh, den Tag vor dem Abend zu loben. Oder die Tour vor dem Gipfel. Denn ein Ende ist noch nicht in Sicht. Aber wir fühlen uns wohl. Es macht Spaß, in dieser gewaltigen Wand. Und: Wir sind jetzt ganz alleine. Hans, Christoph, Gabriel und die Ostwand. Ein Separee.
Als Christoph mit dem Finger über die Gipfel des Berchtesgadener Landes gleitet und Jenner, Schneibstein und Göll berührt, steht er bereits auf der Dabelsteinplatte. Nur wissen tut er’s nicht. “An der müssten wir schon vorbei sein”.
Als wir wirklich an ihr vorbei sind, schickt uns auch die Sonne ihre ersten Strahlen. Es wird heiß. Und anstrengend. Das graue Felsenmeer, in das wir immer tiefer eintauchen, bringt keine Abkühlung. Das Gelände ist leicht, lässt sich hier begehen und muss nicht erklettert werden. Wir halten uns am Grat. Die Berchtesgadener Alpen im Seiten- und den Königssee im Tiefblick.
Dann steht sie direkt vor uns. Die einzige Boje im Felsenmeer der Ostwand. Orange, klein, aber doch irgendwie gemütlich. Die hölzerne Bank, die neben der Biwakschachtel zum Verweilen einlädt, hat dafür schon bessere Zeiten gesehen. Sie ist Heinz Zembsch gewidmet. Dem Hausmeister. Mehr als 300 Mal ist er bereits durch die Watzmann-Ostwand gestiegen.
Eine Nacht in 2360 Metern Höhe, mitten in der Ostwand. Die romantischen Gedanken verflüchtigen sich auch nicht beim Blick ins Innere der Schachtel: sechs neue Schlafsäcke, einige Unterlagsmatten. Ja, hier würd’ es sich schon aushalten lassen. Aber wir wollen weiter. Nur wie? “Graue Rinne” steht in der Topo. Lustig, hier ist alles grau.
Das gemeine Wandl
70 Meter, dann links. Nicht rechts. Auch das steht in der Topo. Nur finden können wir die Rinne immer noch nicht. Ist das eine Markierung? Verblasst, abgeschabt, aber ja, ein grüner Farbtupfer. Und ein Schlaghaken. Wir sind richtig. Die Ausstiegskamine beginnen.
Immer wieder versperren Felsriegel den einfachen Weiterweg. Ein kurzer Zug, ein kräftiger Schwung und es geht weiter. Oft im zweiten, nur einmal kurz im dritten Schwierigkeitsgrad. Auf dem Watzmanngrat sehen wir die letzten Überschreiter des Tages. Die allerletzten werden wir sein.
2630 Meter. Der Sattel. Es fehlen keine hundert Höhenmeter mehr. Dann sind wir durch. Aber da ist noch dieses eine Wandl. Acht Meter hoch, abgespeckter Fels, kaum Griffe. Die Schlüsselstelle. III+.
Christoph steigt vor. Und ich mach’s wie in der Schule. Ich schummle. Die Drahtseilschlinge bietet sich dafür an. Aber auch dann braucht es noch einen beherzten Griff. Hm, doch anders. Ich steige wieder zurück und probiere es noch einmal. Hans wartet geduldig. Dann bin ich drüber. Die Mundwinkel machen sich selbstständig. Da oben, es mögen noch 50 Höhenmeter sein, ist die Südspitze. Auch der Gedanke an den langen Abstieg über den Grat und zurück zum Königssee ändern nichts an der Freude, die ich verspüre.
Jetzt hält mich nichts mehr auf. Außer der Stein, der mir in der Hand bricht. 2000 Höhenmeter Konzentration, nicht 1999. Doch dann, nach knapp fünf Stunden Kletterzeit, steht der Hundstod vor mir. Und der Hochkalter. Und der Hochkönig. Alle da. Und wir auch. Die Watzmann-Ostwand ist kein Mythos mehr. Zumindest nicht für mich.
Der Grat zieht sich. Rauf, runter, rauf. Wir wollen runter, nicht rauf. Die Beine finden es nur noch mittelspitze, als wir am höchsten Punkt ankommen. Denn auch hier geht es noch nicht durchgehend bergab. Und am Hocheck hat dann schließlich nur noch er Bock:
Aber zumindest eines freut uns noch: Dem Watzmann wurden die Zähne gezogen. Seine stählernen zumindest. Nur noch wenig Seile und Trittstifte zieren den Fels. Dafür zieren den Tisch am Watzmannhaus nun drei Maßgläser. Weizenbier mit Zitronenlimonade. Russenmaß, nennen das die Bayern. Ob es Vladimir schmecken würde?
Beim Abstieg zum Königssee kommen wir der Dunkelheit zuvor. Kein Arbeitseinsatz für die Stirnlampe. Und als ich bei der Fahrt zurück nach Linz im Auto Wolfgang Ambros über den Watzmann singen lasse, legt sich bei Christoph ganz plötzlich das Ostwand-Fieber: “Dua den Schaas weg.”
Amüsant. Wiedamoi sehr guat gschriem! Habts euch ihr schuhmässig abgsprochn?
Nein, aber der Hans wäre ein guter Schuhverkäufer, nachdem er uns beiden diese Schuhe empfohlen hat 😉