Wo die Sonne Tote zum Leben erweckt und Müdigkeit zur Tugend wird


Sonnenaufgang auf dem Großen Priel (2.515m)


12. April 2017


Text von Gabriel Egger
Fotos von Gabriel Egger und Christoph Kainrath

Esel oder  Maulwurf? Was ist mir lieber? Tragen oder graben? Kein nervöses Zappeln vor dem Zoobesuch, nur ein Sonnenaufgang im April. Christoph bringt Ordnung ins Chaos seines Kofferraumes und räumt gleichzeitig mit dem Alternativplan auf. Die Ski bleiben dort, wo sie zu dieser Jahreszeit eigentlich noch nicht hingehören. Dafür baumeln die dicken Bergstiefel vom prallgefüllten Rucksack. Für den Aufstieg zum Prielschutzhaus reichen die Laufschuhe. Danach wandern wir in die dunkle Ungewissheit. Haben wir in der Ausrüstungsbörse richtig spekuliert? Es gibt ohnehin nur zwei Möglichkeiten: (Ein)sinken oder (hoch)steigen. Langsam schwindet das Licht aus dem Tal, in den Wänden hoch über dem Dorf wird es kalt. Hoffentlich so kalt, dass über Nacht der Boden und morgen Früh nicht uns der Atem gefriert.

Über dem Toten Gebirge ist neben dem Frühling auch der Abend hereingebrochen. Der Große Priel, der morgen frisch und munter sein muss, hat sich schon die wolkige Decke über den Kopf gezogen. Sein sanftes Schnaufen schickt er uns als frischen Wind, der die Blätter der Bäume neben dem Wanderweg durchwirbelt. Nur die Spitzmauer mag noch nicht schlafen. Eine Geschichte noch, Gabriel, bitte! Bitte! Nun gut, eine letzte. Dann wird das Licht abgedreht:

Es war einmal ein Bergführer, den nannten sie Harry. Groß gewachsen, dynamisch, jung und im ganzen Salzkammergut bekannt. Der machte die ganz kleinen Leute groß, weil er sie nach ganz oben brachte. Auf den Dachstein vor allem. Da, wo die ganzen Könige immer stehen wollten, weil sie dort den besten Überblick über ihr Land hatten. Eines Tages hatte der Bergführer Bauchweh. Und da merkte er, dass es Zeit war, das Königreich zu verlassen. Harry sattelte das  Pferd und ritt  ins Tote Gebirge. Dort zog er in eine große, alte Hütte und erweckte die jahrhundertealten Felsen wieder zum Leben. Zehn Jahre lang. Und wenn er nicht gestorben ist, dann macht er das noch heute.

Ein kurzes Augenzwinkern, ein freundliches Lächeln im schneeweißen Kleid. Dann schläft auch die Spitzmauer.

Die Wärme der Nacht

Hüttenwirt Harry ist nicht da, als wir nach weniger als eineinhalb Stunden an die Tür des Prielschutzhauses klopfen. Unser Herz tut es uns gleich. 21.00 Uhr, hoch über Hinterstoder. Weit unter dem dunklen Himmel. Nur hin und wieder funkelt frech ein Stern zwischen den Wolken hervor.Die Stube ist leer. Zwei weitere Gäste haben es Priel und Spitzmauer gleich getan, schlummern bereits einen Stock weiter oben. Dass sich ein Goiserer wie Christoph in Hinterstoder heimisch fühlt, ist vor allem den Menschen auf 1.420 Meter Seehöhe zu verdanken. Gabi, flinkes Mädchen für alles. Thomas, kochender Fußballfan- vor allem, wenn Juventus Turin verliert. Und Wolfgang, der Linzer, der in Gmunden wohnt und in Hinterstoder arbeitet. Eine große, liebenswerte Familie unter dem Schutz des Priels. Da fällt das Bettgehen manchmal schwer.

Verdammt. Zuviel Risiko. Als der Wecker uns kurz nach vier Uhr früh in die Nacht hinausläutet, läuft uns ein warmer Schauer über den Rücken. Plusgrade. Bis zur Brotfallscharte, dem steilen Schlussanstieg hinauf auf den Grat, sind es 700 Höhenmeter. Bei weichem Schnee doppelt so viel, zumindest gefühlt.

Kurz nach vier Uhr früh vor dem Prielschutzhaus

Die Nacht ist beinahe klar. Nur weit hinter den Haller Mauern türmen sich bedrohlich die Wolken, schwappen wie meterhohe Wellen über die Gipfel. Der Frühling hat gut gearbeitet, die ersten zehn Minuten gehen wir im Trockenen, begleitet von den imposanten Konturen der dunklen Berge rund um uns.

Dann der erste Schritt auf die Schneeoberfläche. Er fühlt sich an, wie die entscheidende Fußlänge vor dem Absprung vom zehn Meter Turm. Nur, dass wir Sekunden später nicht nass werden. Der Schnee hält- und wie. Auf einer langen weißen Treppe steigen wir dem Gipfel entgegen. Die direkte Linie verlangt die Steigeisen, der kalte Wind eine zusätzliche Kleidungsschicht.

Direkt der Brotfallscharte entgegen

Die Wärme der Nacht weicht hier oben langsam einer bedrückenden Kälte. Die Spuren unserer Vorgänger hat sie nicht konserviert, die Querung zur Brotfallscharte ist jungfräulich- und spiegelglatt. Die Stahlseile sind unter einer dicken harten Schneedecke verborgen, wir müssen uns einen eigenen Weg aufs Plateau suchen. Am Anfang geht es ganz leicht, die Mundwinkeln schieben sich nach oben, genau wie es die Sonne langsam tut.

Dann ändern sich plötzlich die Verhältnisse. Der Fuß versinkt im Bruchharsch, die Finger klammern sich  hastig um die vereisten Felsen. Der nächste Schritt landet auf Blankeis. “Wie bist du da drüber?” Fragen bringt nichts. Christoph ist ohnehin schon ums nächste Eck und meine Füße habe nur ich selbst im Griff. Und auch das wird sich später ändern. Das Wolkenmeer im Süden färbt sich orange.

Ausstieg aus der Brotfallscharte

Die Stärke des Lichts

Einen kleinen Durchschlupf hat  Christoph für den Ausstieg gewählt. Zuerst wartet eine abdrängende Querung. Ein paar Zentimeter haben die Zacken der Steigeisen Platz, um die richtige Position zu finden. Steine kullern den Hang hinunter, werden immer schneller und verebben im Kühkar.  Der Pickel saust in den Schnee, hält, und wird wieder herausgezogen. Ein Schritt nach dem anderen. Dann stehen wir auf dem Plateau. Sechs Uhr früh, die Finger sind klamm.

Der Grat, kurz vor Sonnenaufgang

 

Der Wind hat zugelegt, wirbelt die Schneekristalle über den Anraum. Nur mehr wenige Meter und wir haben den Grat erreicht, der uns heute problemlos zum knallroten Kreuz bringen wird. Wolken verdecken den Sonnenaufgang  die Farben sind gedämpft. Nicht weiter schlimm, dass wir ihn nicht ganz vom höchsten Punkt sehen werden.

Die letzten Meter auf den Gipfel

Der Stein, auf dem im Sommer freudige Gipfelstürmer für ein Foto posieren, ist nicht mehr da. Er liegt tief unter dem Schnee verborgen.  Mehr als zweitausend Meter getrennt von den Bürosesseln, auf die wir uns in wenigen Stunden setzen werden, könnte der Kontrast nicht stärker sein. Unwirtliche, unkontrollierte Bergwelt. Strukturierter, regulierter Alltag. Puh, endlich am Gipfel. Nur kurz wärmer anziehen, dann abziehen von hier.

Dank Brille den Durchblick bewahrt

 

Die Sonne schiebt sich zwischen die Wolken

 

Zurück in den Alltag
Rückblick

 

Die Nase friert langsam ein

Bereits auf den ersten Metern zurück zur Brotfallscharte merke ich, dass meine Füße mir den Marathon von vor zwei Tagen noch nicht verziehen haben. Drei Stunden und 24 Minuten, die mir den Abstieg zur Qual machen. Jede stärkere Belastung lässt sie weich werden.

Ein lebendiger Tag im Toten Gebirge

Zwecklos. Die Kraft in den Beinen reicht nicht, um konzentriert durch die Brotfallscharte zurückzukommen. “Wir treffen uns unten, pass auf Bub”. Christoph nimmt den direkten Weg zurück, ich zweige nach Norden ab. Alleine auf dem riesigen Plateau des Toten Gebirges. Die erste Abkürzung in die Klinserschlucht funktioniert nicht. Ich muss den langen Weg nehmen. Keine Lärmkulisse, nur das krächzende Geräusch der Steigeisen, die sich in Eis und Schnee bohren. Lange dauert mein Weg zurück in die Zivilisation. Erst um halb neun Uhr lasse ich mich erschöpft zum Frühstück nieder.  “Du hast dir aber Zeit gelassen”. Stimmt, das war schon mal leichter.

Noch zwei Stunden, dann beginnt der Arbeitstag. Kaffee, Computer, aus dem Fenster schauen. Beim Abstieg nach Hinterstoder kein Blick ins Kastl, sondern hinauf zu jenem Berg, der uns heute früh die kalte Schulter gezeigt hat. Hier unten, in der warmen Frühlingssonne kann man dem Eisberg da oben beim Abtauen zusehen. Das Herz hat der Priel längst zum Schmelzen gebracht.

Frühling im Tal, Winter am Gipfel