Ein scharfer Grad?



Grat oder Grad?

Ein Balanceakt am Abgrund. Auf der einen Seite landen wir hart beim T, auf der anderen weich gebettet beim D.

Das ausgesetzte Laster der Bergsteigersprache

Kommentar von Gabriel Egger

Aggradd” sagen die Bayern, wenn jemand genau, ordentlich, beinahe schon pedantisch ist. Da sagt der Bauer nach der Heuernte  zufrieden zu seiner Frau:”Ka Sorg. Paßt eh ös ganz ackrat“. Oder er hat sich bereits eine andere Maid angelacht und schreit, als er im Stall in flagranti erwischt wird, entsetzt: “Agrat du host mir gföt” Im Wörterbuch finden sich diese Schreibweisen freilich nicht. Akkurat steht dort fein säuberlich und orthographisch korrekt geschrieben. Die Bedeutung bleibt aber ein und dieselbe. Halb so schlimm.

Doch schweift der Linguist von den bayrischen Feldern ein paar Höhenmeter über steile Wände, schroffe Felsen und exponierte Rinnen nach oben, steht er am Grat – und vor einem Problem.
Womöglich hat die Angst vor der Klimaerwärmung ihren Teil dazu beigetragen, dass sich die oberste Kante eines Bergrückens nun auch mit Grad Celsius beschreiben lässt, die Augen eines Bergsteigers tränen trotzdem ob der Bedeutungsveränderung.

Besonders nach dem ersten Wintereinbruch müssen wir uns bei der Tourenplanung genau überlegen, was wir denn in den Rucksack packen. Und dann tauchen sie auf, die schwierigen Fragen: Wieviel Grad hat es am Grat? Ist ein Grat in diesem Schwierigkeitsgrad bei Schneeauflage machbar?

Und hält das Bugrad bei der Anreise? Achso, nein. Das ist wieder etwas anderes.

Doch weh tut das nicht nur in der Höhe, auch an der Adria rast das sprachliche Fallbeil zur Vollstreckung auf Meeresniveau. Die Sonne strahlt auf den wohlgenährten Urlaubswanst, die Kinder laufen kreischend um die  Sandburg, der Eisverkäufer bemüht sich lächelnd seine dahinschmelzenden “Gelati” zu horrenden Preisen zu verkaufen und die Brandung erzeugt wohligen Sekundenschlaf.  Die Postkarte wird – getrieben von Schadenfreude-  bunt beschrieben: “Liebe Sissi. Ich hoffe, bei euch ist es auch so schön, wie bei uns. Hier hat es mindestens 35 Grat“. Kalter Schauer über dem Rücken, Wolken ziehen auf, Regen droht. Das harte T passt nicht zum weichen, warmen Sand. Genauso wie wir dem Grat die Schärfe nehmen, wenn wir ihm ein weiches D verpassen. dt. ist übrigens die Abkürzung für deutsch. Zufall? Ja. Passen tut’s trotzdem.

Ein Grat hat kein Temperaturempfinden. Die Felsen frieren nicht, wenn sie mit Schnee bedeckt sind. Sie schwitzen auch nicht in der prallen Mittagssonne. Der Südgrat liegt zwar meist in der Sonne, der Nordgrat oft im Schatten, Grade sind sie deswegen aber auch noch nicht.

Und all jenen, die sich jetzt erwischt fühlen und  beginnen protestierende Gedanken zu spinnen, dass der Herr Oberlehrer lieber sein Studium beendet hätte, bevor er mit der virtuellen Welt Scrabble spielt, sei gesagt: Sprache ist kostbar. Und schön. Wenn wir wahllos mit Worten um uns schmeißen, verliert sie langsam an Bedeutung. Wie der Grat, wenn er im Winter plötzlich eine Jacke braucht.

 

Da bin ich ordentlich ins Schwitzen gekommen. Bei knapp 40 Grat?