Foto: Widerin

Sie helfen überall, wo sie gebraucht werden. Bei jedem Wetter, in jedem Gelände. Viele Bergsteiger haben ihr (Weiter-)Leben der Bergrettung zu verdanken.

Ein Opfer konnten die Retter aber bislang nicht bergen. Es hängt in der Luft und droht tief abzustürzen: die Empathie.

Von Gabriel Egger





“Selbst schuld”, sagt die Mutter, wenn das Kind auf dem Gehsteigrand balanciert, stürzt und das Pflaster mit den bunt karierten Streifen braucht, das die Mama vor dem Spaziergang vorsorglich in der Handtasche verstaut hat.

“Selbst schuld”, sagt  der Lehrer, wenn der Schüler nur dann kreativ ist, wenn es um die Gestaltung der Pausen geht,  das Schularbeitenheft viermal mit einem Mandala verwechselt hat und am Ende des Jahres unter Tränen eine Abschlussprüfung fordert.

“Selbst schuld”, sagt auch Peter, wenn er im Internet den Einsatzbericht der Bergrettung überfliegt. Peter ist einer von vielen, der im dunklen Schatten der Anonymität zubeißt. Lange Zunge, glänzendes schwarz-braunes Fell, treuherzige Augen, ein reinrassiger Rottweiler. Zumindest wenn man sein Bild betrachtet, das er sich für seinen Facebook-Account aus dem Google-Bilderarchiv heruntergeladen hat. Bei der Zwei-Wort-Spende belässt es der trotzige Zweibeiner aber nicht.

“Waun dieser Volltrottel bei dem Wetter am Berg herumrenna muas, dann habi ka Mitleid. Soi den Einsotz zoin!!!” Die Rufzeichenschlange wird zur Netzpython.

Den Mann, der mit seinem Sohn in der Hoffnung auf einen Sonnenaufgang auf dem Traunstein im Salzkammergut übernachtet hatte ,vom Wetterbericht überzeugt und am nächsten Morgen vom Gegenteil überrascht war, beim Abstieg unglücklich ausrutschte und durch den Sturz schwer verletzt wurde, kennt er nicht.
Das ist der Punkt, an dem sich die dritte Geschichte von den ersten beiden unterscheidet.

Schadenfreude, Neid und Langeweile

Und das ist auch der Grund, warum Peter den Rottweiler diese Sätze schreiben lässt. Einem völlig Unbekannten, der sich schwer verletzt hat, ins Gesicht sagen, dass er an seinen Verletzungen “selbst schuld” ist? Nein, das gehört sich nicht. Aber in einer Kommentarleiste in den sozialen Medien ist das okay. Freie Meinungsäußerung, er will nur warnen, die Bergretter schützen und der Betroffene liest es ja ohnehin nicht. Viermal falsch.

Die Selbstverständlichkeit und die Rohheit, mit der über Menschen in der vermeintlich gesetzlosen digitalen Welt gerichtet wird, hat Ausmaße angenommen, die nicht mehr zu akzeptieren sind. Von niemandem. Wer sich im Auge des Shitstorms befindet, wird so lange herumgewirbelt, bis es richtig weh tut und sich eine höhere Kraft, in den meisten Fällen der Administrator, zu einer Entfernung des Beitrags entschließt. Es ist ein entsetzlich-verletzender Domino-Effekt. Einer fängt an, ein anderer stimmt ein und der Kanon der anonymen Schadenfreude singt fröhlich ein trauriges Lied.

Gründe gibt es, zu erklären sind sie kaum. Neid, die sechste der sieben Todsünden, hat den größten Anteil. Dicht gefolgt von Eifersucht, Unzufriedenheit und  Langeweile. Viele, die unter Beiträgen von Bergrettung und Medien Unfälle kommentieren, können sich unmöglich vorstellen, dass jemand die gesicherte Zone verlässt. Sie können nicht glauben, dass sich Entbehrungen lohnen können, kennen die damit verbundenen Eindrücke und Gefühle nicht. Sie schließen auf sich, finden es  verwerflich und lassen ihren Gedanken ungefiltert freien Lauf. Wenn dann noch andere Menschen in ihrer Freizeit helfen müssen, um Personen, deren Risikobereitschaft größer als die eigene ist, wieder zurück in diese gesicherte Zone zu bringen, verliert das Fass den Boden. Das fieberhafte Suchen nach Verfehlungen ist zum Computerspiel geworden.

“Wegen euch muss wieder die Bergrettung ausrücken”

Oft ist dieser eine Satz zu lesen. Immer und immer wieder. “Wegen solchen Leuten muss wieder die Bergrettung ausrücken”. 
Ja, das stimmt.
Die Bergrettung ist aber eine Organisation, die genau dafür geschaffen wurde. Um Menschen, die in Not geraten sind, zu helfen. Die Retter machen keinen Unterschied zwischen “verschuldet” und “unverschuldet”, genauso wie der Arzt keinen Unterschied macht, ob ein Drogensüchtiger mit Überdosis vor ihm liegt oder ein Kind, das über die Treppe gefallen ist. Auch wenn sie bestimmt nicht immer eine Freude daran haben, sie retten und helfen aus Überzeugung.
Christian Egger ist Einsatzleiter der Bergrettung Gosau und hat mit einer Antwort in einem Interview mit den Oberösterreichischen Nachrichten die Antwort auf die gesamte Diskussion gegeben:

“…..Darum kann ich den Diskussionen nichts abgewinnen, die dann in den Sozialen Medien oder auf dem Stammtisch geführt werden, welche Deppen sich da auf den Berg verirren. Deppen gibt’s bei mir nicht. Jeder Mensch ist es wert, gerettet zu werden. Dafür bin ich da. Sehe ich das einmal anders, höre ich auf.”

 

Wir dürfen aber dieses Privileg, Menschen zu haben die sich im Notfall um unser Leben kümmern , nicht ausnutzen. Wir müssen überlegen, bevor wir handeln. Wir dürfen nicht den einen Schritt zu weit gehen, weil es unser Ego befiehlt, nicht zu viel riskieren, weil wir anderen zeigen wollen, welche Höllenhunde wir sind. Ein “Like” weniger tut nicht weh.Wir sollten der Natur ihr Recht eingestehen, die Verhältnisse zu bestimmen  Auch kleine Gipfel sind feine Gipfel. Wir dürfen uns nicht auf andere verlassen, Verantwortung übernehmen und uns auf Dinge, die uns an die Grenzen und darüber hinaus bringen, akribisch vorbereiten. Denn schwierige Touren sind nichts, wofür wir uns rechtfertigen müssen. Wir müssen ihnen nur gewachsen sein.

Abrüstung der Worte

Aber: Fehler können passieren. Immer. Unfälle leider auch. Und wenn die passieren, sollten wir keine Vorwürfe erheben. Auch wenn sie bei schlechtem Wetter passiert sind, bei ungünstigen Verhältnissen, im Alleingang, oder einfach nur, weil das Pech an diesem Tag mehr zu sagen hatte, als das Glück.

Wir müssen den Zeigefinger auf uns selbst richten. Was wäre passiert, wenn das meine Freundin gewesen wäre? Mein Freund, mein Vater, mein Onkel, mein Sohn? Wenn dieser geliebte Mensch bei einem Absturz sogar gestorben wäre? Wie würde ich mich fühlen, wenn ich dann lesen müsste, dass “dieser Trottel eh selber schuld ist?”
 
Lasst uns abrüsten. Weg mit den scharfen Worthülsen. Versuchen wir es mit Mitgefühl, auch wenn, oder gerade weil wir den Menschen nicht kennen. Schlagen wir uns auf die Seite der Angehörigen, richten wir sie mit einfachen Gliedsätzen wieder auf. Worte sind mächtig. Glaubt ihr nicht?
Dann lasse ich die Frau des Mannes, der den Traunstein im Sommer wie im Winter kannte, am 14. Jänner unglücklich stürzte und sich schwerverletzt plötzlich einem digitalen Sturm der Entrüstung ausgesetzt sah, meinen Kommentar beenden:
 

“Es macht viel mit uns, was wir lesen. Aber dass es so viel ist, merke ich erst jetzt.
Die positive Unterstützung die wir jetzt erfahren, hilft uns allen sehr.”

Denkt dran. Bitte.