Ist unser Drang nach dem Gipfel eine ewige Suche? 




Der Berg zwischen großer Liebe und einsamem Schmerz.







Von Gabriel Egger


Sie hat ihn schon wieder verlassen. Ganz still, aber nicht
heimlich. „Es ist vorbei, ich will das
nicht mehr“
hat sie gesagt. So bestimmt, dass kein Raum für  Zweifel blieb. Mit ihren braunen
Rehaugen, ganz glasig von den Tränen, die sie nicht zeigen wollte. Genauso wie
sie es immer mit Wut und Trauer gemacht hat, wenn mal wieder alles andere
wichtiger war. In Gedanken ist er gefallen. Zuerst aus den Wolken, dann auf den Boden der Tatsachen. Zwei Jahre
ist alles gut gegangen. Oder ist nur er gut gegangen? Auf alle möglichen
Erhebungen ist er gestiegen, nur selten  auf die ihren. Vor der Arbeit,  nach der Arbeit, am Wochenende sowieso und
wenn irgendwo dazwischen Zeit blieb, war der Griff zum Rucksack schneller, als
der auf die Kurzwahltaste. Das Wetter war schließlich schön, „das musst du doch verstehen“. Hat sie.
Die ersten paar Wochen lang. Bis es Monate wurden und der Egoismus die
Gemeinsamkeit überflügelte. Selber schuld, wenn sie so unsportlich ist. Falco,sing es laut.

Das Leben besteht aus Kompromissen, hat meine Oma immer
gesagt. Eigentlich sagt sie es immer noch, obwohl sie weiß, dass es das eine
Ohr nicht einmal erreicht, bevor es aus dem anderen wieder hinausdröhnen kann.
Und doch hat sie recht. Prioritäten. Ein seltsames Wort. P-R-I-O-R-I-T-Ä-T-E-N.
Klingt furchtbar gscheit. Ist man auch, wenn man sie richtig setzt. Hobby vor
Beruf? Beruf vor Beziehung? Beziehung vor Freunde? Verzicht vor Leidenschaft? „Am besten von allem ein bisschen“. Ganz
lustig. Wenn das so einfach wäre, gäbe es auf der Welt nur Menschen, die dir
freudestrahlend einen guten Tag wünschen. Nur gibt es auch jene, die mit dem
Jausenbrot nach dir werfen, wenn du sie nur ansiehst.
Der Bergsport ist genauso vielseitig, wie die
Entscheidungen, die er mit sich bringt. Sei es die Frage nach den eigenen
Fähigkeiten, nach der richtigen Tour oder der passenden Kleidung. Oder: Wieviel
Zeit möchte ich in ein Hobby investieren? Denn eigentlich ist es genau das.
Auch wenn das Feuer der Leidenschaft lodert, müssen wir uns bewusst sein, dass wir es selbst gelegt haben und auch entscheiden ob es ein Glutnest bleibt, oder ein Flächenbrand wird.

Sich selbst oder den Partner verlieren

Der Bergsport ist auch so zeitintensiv, wie kaum ein anderer. Es besteht ein großer Unterschied zwischen “Schatz, ich lauf’ eine Runde um den Block”  und “Schatz, ich mach’ die Glocknerwand-Überschreitung. Komm in drei Tagen wieder”. Das merkt man spätestens bei der Reaktion. Bei ersterem wird man sich kaum böse Blicke einfangen, zweiteres wird zumindest eine Diskussion hervorrufen. Aber dafür leben wir. Nicht für die Diskussion freilich, sondern für die Freiheiten, die wir uns in einer anarchischen Welt fernab von Kurzparkzone und Registrierkassa (mittlerweile gilt da ja auch nur mehr bedingt) nehmen können. Wer das nicht fühlt, versteht es nicht. Da kann man auch niemandem einen Vorwurf machen, Aber an diesem Punkt beginnt die innere Zerreißprobe. Wo stecke ich zurück? Will ich überhaupt zurückstecken? Tue ich mir selbst leid, wenn draußen die Sonne scheint und ich händchenhaltend einen Stadtspaziergang mache? Die Körper vereint, die Geister getrennt. Der Partner merkt die innere Unruhe. Wie unangenehm muss es sein, gegen einen Haufen Steine zu verlieren? “Ich würd’ ja eh so gern mit dir gehen, aber du magst ja nicht”. Immer und immer wieder. Der Teufelskreis endet dort, wo der eine dem anderen nachgibt, um ihn nicht zu verlieren und sich dabei selbst ein Stück weit aufgibt. Dann sind schnell beide einsam – gemeinsam. Jemanden zu seinem Glück zwingen? In den meisten Fällen ganz schlecht. Sich verstellen und gute Miene zum bösen Spiel machen? Auch nicht besser.
Und wenn alles vorbei ist, fühlt man sich im besten Fall frei. Von jeglichen Zwängen, von schlechtem Gewissen, von der Maßregelung. Aber war es das wert? Eines steht fest: Berge werden dir niemals Zuneigung geben. Du sitzt am Gipfel, fühlst dich frei. Minuten lang, vielleicht eine Stunde.  Doch das wirkliche Leben spielt sich unten im Tal ab. Davor flüchten wir, um genau dorthin wieder zurückzukehren. Mit anderen Perspektiven, anderen Gefühlen, anderen Gedanken. Das Schönste am Bergsteigen ist das “nach Hause kommen”. Umso schöner, wenn dort jemand auf dich wartet, der dich in die Arme schließt. Noch schöner, wenn das bereits am Gipfel passiert ist.

Flucht nach vorne

Hans umarmt niemand, wenn er nach einer langen Bergtour erschöpft  seine Schuhe ins Eck stellt. Seit 25 Jahren lebt der 48-Jährige alleine in einer kleinen Wohnung in Linz. Immer nur sporadisch, denn bis vor kurzem war der gebürtige Steyrer auch im Berufsleben ein Wandervogel.
Alleine, aber nicht einsam.
Zeit für ernsthafte Beziehungen blieb nicht. Anfangs war das kein Problem, mit der Zeit aber machte sich Ernüchterung breit. “Spaß macht das nicht unbedingt. Aber der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Irgendwann wird es normal”, sagt der passionierte Bergsteiger. Um aus dem selbstproduzierten Kokon auszubrechen, schulterte er den Rucksack, schnürte die dicken Bergschuhe und machte sich auf zu seiner ersten Wanderung. Das war vor mehr als fünf Jahren. Er konnte tatsächlich die Flügel ausbreiten. Auch wenn er in den Bergen immer noch alleine war, kehrte das Lebensgefühl zurück. “Die Berge waren ein Anker, etwas, an dem ich ich mich festhalten konnte”, erzählt er. Immer öfter, immer intensiver trat er die Fahrt ins Gebirge an. “Ich glaube man kann das gut mit einer Sucht vergleichen. Das Gefühl ausgepowert da oben zu stehen, willst du immer wieder haben. Umgeben nur von Natur und Stille”. Dafür würde er auch auf vieles verzichten. Zum Beispiel auf eine Partnerschaft.  Das Wochenende ist immer noch für die Felsen des Landes reserviert. Das würde auch so bleiben. “Ich denke es macht nur wirklich Sinn, wenn jemand in diese Richtung tickt”, verwirft er den Gedanken an eine Frau Hans nicht sofort. Ob er alleine loszieht, oder mit einem seiner Bergfreunde sei ihm “ziemlich egal”. Und beim Heimkommen? “Lasse ich die Gedanken im Gebirge”. Die Flucht nach vorne hat also funktioniert. Die Berge sind zum Puffer geworden, obwohl sie eigentlich gar nichts tun, außer dastehen. Manchmal grau, manchmal weiß. Für Hans sind sie Schale und Inhalt des Lebens. Bei möglichen Beziehungen gibt es für ihn nur mehr einen Dreier. Mann, Frau, Berg-  Liebe.

Wo die Liebe hinsteigt

Natürlich, das sind alles extreme Beispiele. Es gibt sehr wohl Paare, die einmal im Monat gemeinsam eine Wanderung machen, sich  im Urlaub am Strand den Strohhalm im Cocktail teilen und gemeinsam die gotische Kirche im Ortskern besichtigen. Das ist wunderschön, reicht aber vielen nicht. Naturliebhaber, Sportfanatiker und Kletterfreaks brauchen die wöchentliche, beinahe tägliche Dosis. Und da muss sie mitziehen. Oder er.
Philips schönste Tour war die auf den Barmstein am Nordostrand der Berchtesgadener Alpen. 841 Meter hoch- richtig gegoogelt. Klingt also nicht nach einer brachialen Herausforderung. “Weil ich dort die ganz besondere Frau traf, die mich bis heute fasziniert”. So die Zusammenfassung des Textes, der auf dem – mittlerweile gemeinsamen- Blog zu lesen war. Darum also, nicht wegen der netten Kraxelei. Damals hatte Daniela, die beschriebene Tausendsasserin, noch einen Freund.
Love does not consist in gazing at each other,
but in looking outward together in the same direction.
Jetzt auch – nur einen anderen. Philip und Dani sind  ein dynamisches Duo. Auch, weil der Ischler nicht locker gelassen hat. Unzertrennlich als Seilschaft und trotzdem nicht nur in den Bergen vereint. Obwohl sie den  Großteil ihrer Freizeit nicht am Talboden verbringen. Das Gebirge gibt ihnen intensive Erlebnisse. Der eine fängt den anderen auf, wenn er fällt. Nicht nur sprichwörtlich. Momente, wie Sonnenuntergänge, schwierige Routen zu durchsteigen oder stundenlanges Faulenzen in der Sonne, zu teilen ist ein Privileg. Der Augenblick schweißt zusammen, die Erinnerungen verstärken das Band. Expeditionen nach Bolivien, Reisen ins wilde Kanada, ein Kaffee in der Altstadt von Salzburg.  Klingt nach dem Jackpot mit Joker für Alpinisten.
Wo Fragen beantwortet werden, stellen sich oft neue. Fast wie die Türen, die sich öffnen, wenn sich andere schließen. Denn wo intensiv gemeinsam Zeit verbracht wird, bleiben Freunde auf der Strecke. Nur mehr mit der Freundin unterwegs sein? Mit 15 nannten wir das “unter dem Schlapfen stehen”. Aber seien wir uns ehrlich: Aus den Kinderschuhen wächst man heraus.So ein Schlapfen kann ja ganz flauschig sein. Andererseits: Nur aufeinanderpicken, sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag. Irgendwann kracht es und dann ist keiner mehr da. Oder?
Auch wenn die perfekte Beziehung zum Berg schmackhaft wäre, ein Rezept gibt es nicht. Sucht man die große Liebe (nicht umsonst gibt es Singlebörsen für Bergsteiger), den Weg zu sich selbst oder flüchtet man vor Entscheidungen. Antworten werden die Felsbrocken nicht geben. Aber man kann sie irgendwo dazwischen finden. Im Dickicht der Latschen, zwischen den Seilversicherungen oder bei einem Weitblick in die österreichischen Alpen.
Und im Zweifelsfall hat immer die Oma recht.