Ein Klettersteig, dessen Ruf niemals verhallt
Ein Seiltanz zwischen Mythos und Wahrheit

Klettersteig Königsjodler auf den Hochkönig (2.941m)- Schwierigkeit D

1.700 Höhenmeter, 18 Kilometer Wegstrecke


Von Gabriel Egger






Renate hat es nicht mehr geschafft. Ihr Körper liegt klamm vor Kälte 150 Höhenmeter unterhalb des Gipfels auf einer Trage. Schneeflocken fallen auf das aschfahle Gesicht, der Wind, der die Kristalle durch die Nacht wirbelt, unterbricht die Grabesstille. Die Rufe ihres Begleiters Alexander scheinen in der Kälte zu gefrieren, der Verstand sich im aufziehenden Nebel zu verhüllen. Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war. Renate ist tot. Gestorben auf dem Hochkönig.

“Die Frau war zu diesem Zeitpunkt schon apathisch, sie war im Delirium – keine Chance mehr, dass sie selber geht. Ich habe probiert, ob ich sie tragen kann, weil mir war klar, dass die sofort in die Wärme muss, sonst überlebt sie das nicht. Sie hat sich dann aber gewehrt, hat mich gekratzt und die Stirnlampe heruntergerissen.“


So knapp unter dem Matrashaus endete das Leben von Renate, Foto: Kurz



Alle Bemühungen waren umsonst. Die Erzählungen von Roman Kurz, Hüttenwirt auf dem Matrashaus, lassen zuerst eine Gänsehaut entstehen, bevor sie tief darunter gehen. Wettersturz der Gefühle.


„Es war ziemlich grenzwertig. Wir haben die Frau dann in der Trage bloß noch gezerrt. Sie ist dann geschätzte 150 Meter vor der Hütte gestorben“

Dort blieb sie liegen. Drei Tage lang. Weil der Hubschrauber wegen der Wetterkapriolen nicht fliegen konnte und eine Bergung zu Fuß angesichts der Verhältnisse unmöglich war. Da lag sie, unter dicken Tüchern, schneebedeckt, auf der Trage die zur Bahre wurde. Einzig eine brennende Kerze erinnerte an die starken Lebensgeister, die einmal durch den Körper spukten. Wie ein Mahnmal lag sie vor dem Hochplateau, wie eine traurige Warnung für jene, die viel zu spät in den Königsjodler-Klettersteig eingestiegen waren und es mit viel Glück noch geschafft haben.
Erinnerung an Renate (37), Foto: Roman Kurz

“Auch Renate und Alex hatten vorher beim mir am Matrashaus angerufen. Sie sind erst gegen dreiviertel neun Uhr unten losgegangen. Diese zwei Stunden zu spät haben letztlich zu diesem tragischen Unglück beigetragen.
Zum Glück gehen die allermeisten Fälle von zu spätem Losgehen häufig noch gut aus.
Aber wenn doch nicht, dann enden solche Vorfälle oft tragisch”

 

Vorsicht, Königsjodler!

Es sind Geschichten wie jene, die mich beim Blick aus dem Fenster der Erichhütte begleiten, ihn immer wieder hinauf zu den Türmen schweifen lässt, deren Silhouetten in der Dunkelheit glänzen. Fast auf den Tag genau drei Jahre ist es her, dass Renate und Alexander von hier aus zum gemeinsamen Kletterabenteuer aufbrachen und nicht mehr als Paar zurückkehrten. Die Nacht ist klar, die Sterne funkeln unschuldig vom pechschwarzen Himmel, weil sich auch der Mond in Zurückhaltung übt.Ich vertrete mir die Beine, trotz der 2800 Höhenmeter die ich nach dem fliegenden Wechsel vom Hohen Göll zum Hochkönig bereits in den Füßen habe. Robert und ich haben den Kuchler Kamm bewältigt (Überschreitung Kleiner Göll-Hoher Göll), sind nun nach einer einstündigen Autofahrt zum Dientener Sattel die einzigen Gäste auf der liebevoll geführten Hütte in 1545 Meter Seehöhe im Salzburger Land. Wirt Ludwig Bürgler hat uns trotzdem empfangen, als wären wir, und nicht der Felsbrocken über uns, der König. Ein netter Mann mit sorgvoller Miene, stets bemüht die richtigen Ratschläge zur richtigen Zeit zu verteilen. Vorsichtig, außerordentlich zuvorkommend, aber bestimmt, wenn es ihm ernst ist. Wie ein Opa, der die lästigen Enkerl im Zaum halten muss. Einer der Hüter des Mythos, der um den Weg aus Stahl auf den höchsten Gipfel der Berchtesgadener Alpen, entstanden ist.

“Was habts denn vor morgen?”
“Wir schauen uns den Königsjodler an. Wie lange brauchen wir da?”

Roberts Angewohnheit das Gegenüber in puncto alpinistischer Versiertheit möglichst lange im Dunkeln tappen zu lassen, bringt uns jenen Dialog, der den Königsjodler seit seiner Errichtung 2001 zum Stahlseilakt gemacht hat. Zwischen Abenteuer, Angst, Gefahr und Unvernunft.

Aufstieg mindestens 6 Stunden. Dann noch rüber zum  Gipfel. Eine Stunde. Abstieg über das Birgkar auch zumindest drei Stunden. Das ist ohnehin nicht zu empfehlen. Ich weiß nicht, ob sich das Ende September an einem Tag noch ausgeht.”


“Wir werden früh starten.”


“Ich rate euch ab, das als Tagestour zu machen. Nass könnte er oben auch sein. Die Sonne hat nicht viel gearbeitet in den vergangenen Tagen. Schlafts lieber am Matrashaus”.


Dass ich am  um 15.00 Uhr in Linz den redaktionellen Spätdienst antreten soll, verraten wir ihm besser nicht.

Ausblick von der Erichhütte

 

Lange Schatten

“Gut, dass es Leute wie Ludwig Bürgler gibt”, denke ich, als ich mich um kurz vor 22.00 Uhr ins Bett kuschle. Dem könnts ja auch wurscht sein, was die Leute treiben. Auch wenn es den Bergsteigern , die den Anforderungen gewachsen sind, wie eine Erziehungsmaßnahme vorkommt, wenn einer gebetsmühlenartig von den großen Gefahren predigt.”


Immer wieder wache ich auf, die kalte Luft, die durch das geöffnete Fenster strömt, klart meine Gedanken auf. Ich denke an die vielen Warnungen, an Robert, der sich nicht viele Sorgen darüber macht. An Renate und Alexander. Und an Roman Kurz, der sich oben auf dem Matrashaus den Mund fuselig redet, um der Leichtsinnigkeit Einhalt zu gebieten.

Lange Schatten liegen über dem Berchtesgadener Tal. Lange Schatten auch über mir, über dem Weg, der sich immer mehr aufsteilt, Kurven zieht, den Untergrund wechselt. Es ist bereits kurz vor sechs Uhr früh und bald erreichen wir den Einstieg des “schwersten Klettersteiges der Ostalpen”. Dieser Ausdruck lähmt meine Beine, lasst mich ehrfürchtig werden. Robert und ich wechseln (noch) kein Wort, lassen die Nacht sprechen.

In der Hochscharte, auf 2.200 Metern, weist uns ein Schild den Weg. “Königsjodler Klettersteig. Sehr schwierig”.

“Andiamo”. Roberts Enthusiasmus hallt durch die Schlucht. Zweieinhalb Stunden hat er für den Durchstieg veranschlagt. Puh.

Wir legen das Klettersteigset an, schützen die hellen Köpfchen mit einem Helm und ziehen uns über die erste Vertikale nach oben. Die D-Stelle gibt einen Vorgeschmack, was auf den kommenden 1,7 Kilometern Kletterstrecke auf uns zukommt. Trotz der alpinen Kahlheit des Geländes wird es schnell blumig. Und es sind nicht wir, die zu Mimosen werden.

Sonnenaufgang im Königsjodler

Der Flower-Tower, einer von mehreren wilden Gratzacken die auf-und wieder abgeklettert werden müssen, baut sich vor uns auf. Es dämmert langsam, der Schweiß schafft es unter der Haube durchzurinnen, tropft auf den Stein. Heiß ist der nicht, dafür griffig.

Der Teufel holt die Jungfrau

Der erste Abstieg steht bevor, das Hinabhanteln in den Schatten kostet Überwindung. Fast mehr als der folgende Aufschwung zum Mühlbacher Turm (B/C). Es fühlt sich toll an. Diese Kulisse, dieser wenige Spielraum, den man mit Händen und Füßen nützen muss, und die Konzentration, die alles andere als diesen Fels, dieses Seil, diesen Robert, ausblendet.
Unterwegs am Königsjodler-Klettersteig
Rückblick. All diese Türme werden überklettert
Dann geht es plötzlich nicht mehr weiter. Das Seil wird locker, kürzer, endet vor dem Abgrund.  Der Jungfrauensprung. Springen, um weiterzukommen, um den Rest hinter sich zu lassen. Ist dieser lange Spreizschritt getan, baut sich der Teufelsturm vor dem Begeher auf. Ein symbolischer Akt. Gerade hier, auf dem Steig, der so oft unterschätzt wird.
Da kommen sie von nah und fern, die Klettersteig-Jungfrauen. Ohne viel Erfahrung, ohne je einen solchen Weg begangen zu haben. Weil sie fasziniert sind von den Geschichten, von der formschönen Gestalt, weil sie des Hochkönigs Bann verfallen sind. Und werfen sich gleich vor den Teufel, den Königsjodler, der längste und schwerste Klettersteig der Ostalpen. Der so vielen die Hörner gezeigt, ihnen Feuer unter dem Hintern gemacht und einige in die körperliche Hölle geschickt hat.
Jungfrauen, die vor den Teufel springen. Freiwillig.
Abstieg im exponierten Gelände
Die schroffen Türme des Königsjodler-Klettersteiges

 

Kraftloser Kummer

Auf dem Teufelsturm ist der Höllenritt noch lange nicht zu Ende. Durchatmen. Die Sonne beleuchtet inzwischen die umliegenden Dreitausender, lässt die weißen Spitzen glänzen. Mehr als 200 sind von hier aus zu sehen. Allen voran das Wiesbachhorn, die Madonna unter den Tauernbergen. Alt, aber immer noch wahnsinnig anziehend.
Über eine Brücke musst du gehen, eine dunkle Schlucht überstehen. Mit der Melodie von Peter Maffay in den Ohren, balanciere ich über den Kranabetter-Steig, eine fünf Meter lange Seilbrücke. Dann wieder steil hinauf, kraftraubend hinunter, kurz geradeaus, lange im Freudentaumel. Der Flying-Fox, der sich nahtlos in die Liste der “Jodler-Sehenswürdigkeiten” einreihen würde, ist “außer Betrieb”.
Tiefblicke
Die Dientener Schneid
Kummetstein voraus
Auch das Horn des Teufels ist bezwungen. 2522 Meter ist es in Berchtesgaden hoch. Vom Teufelshörndl bewegen wir uns langsam Richtung Dientener Schneid. Eben jene kauft sie mir zwar nicht ab, Gefühl muss ich dennoch beweisen, um nicht den Sturz ins Leere anzutreten.
Die Unterhaltungen werden mehr, auch wenn Robert die Gepardensocken angezogen hat. Rauf, runter, rauf, runter, hinten, vorne, links, rechts. Blick zurück. Gabriel noch da? Gabriel noch da. Rauf, runter, hinten….
Gehpassagen zwischendurch 
Wir erreichen den Notausstieg. Hier könnnte man ins Birgkar wechseln, den Aufstieg weniger vertikal fortsetzen. Oder man setzt den Kummer fort- mit dem Aufstieg zum Kummetstein. Es folgen die schwierigsten Passagen des Steiges: kraftraubend, steil, völlig ausgesetzt.
Ich grinse. Fast schon ein bisschen überheblich. Keine zwei Stunden sind bis hierhin vergangen. Weit nicht. Wo ist er, der Mythos, der wie ein Damoklesschwert über meinem Helm schwebte? Gefahr? Ha! Ich hab’ keine Angst vor Gefahr. Hörst du mich Gefahr, ich lach dir ins Gesicht! Ha Ha Ha.
Und die Gefahr lachte zurück.

Kaffee, Kuchen, Eile

Im oberen Teil des Kummetsteins werden meine Arme plötzlich schwach. Völlig unvermittelt, aus dem Nichts. Wenn nur das Fitnessstudio nicht so langweilig wäre. Immer wieder muss ich sie entlasten. Bis zum Ausstieg am Hohen Kopf sind es noch ein paar Meter. Hätte ich doch den Spinat immer aufgegessen.
Die leichte Schulter, auf den ich den Königsjodler genommen habe, wird schwer. Genauso, wie es die Passagen im oberen Teil werden. Hier das Seil loszulassen, endet am unteren Ende des Birgkars. Robert muss immer wieder warten. Die letzten Meter (C) hinauf zum Hohen Kopf sind mühsam.
Nach zwei Stunden und 26 Minuten erreichen wir das Steigbuch am Ausstieg. Müde, aber glücklich. Wir haben Zeitreserven, können gemütlich zum Gipfel spazieren. Als mein Gesicht im Schnee landet, offenbart sich die zweite Crux des Königsjodlers. Der Steig staubtrocken, das Plateau verschneit und eisig, vom Wind beherrscht. Der Gang zum Matrashaus kann zur Lebensaufgabe werden.
Weg zum Matrashaus
Glücklich auf dem Gipfel
Unendliches Panorama
Im Matrashaus ist nicht viel los. Roman Kurz begrüßt uns mit seiner bekannten Art: kurz angebunden. Höflich, aber nicht bereit für große Worte. Doch wer ihn kennt, weiß, was er sich hier oben mitmacht. Seit fast 20 Jahren.
Kaffee und Kuchen in der Herbstsonne schmecken wie ein gesamtes Gala-Dinner. Die Terrasse, der Vorgarten meiner Seele. Kaum einen Vormittag habe ich heuer mehr genossen. Perfekt. Von A bis Z. Von der Erichhütte bis zum Matrashaus. Vom “Andiamo” bis zum “Bravissimo”.
Frühstück am Matrashaus
Unendliche Weiten
Gastgarten
Die Uhr tickt trotz der baumelnden Seele. Um drei Uhr nachmittags muss ich in der Arbeit erscheinen. In Linz. Wir verabschieden uns, die Augen wollen das nicht ganz wahrhaben, bleiben im Panorama stecken. Ich denke noch einmal an Renate, die dieser Blick hier nicht mehr vergönnt war.
Hinab durchs Birgkar. Auch darüber kursieren die schrecklichsten Geschichten. “Geröllhalde”, “Todestal”, “Steinschlagparadies”.
Abstieg durchs Birgkar
Die ersten 200 Höhenmeter sind wahrhaftig kein Catwalk. Der Berg in Schutt und Asche. Um hier keinen Stein auszulösen, müsste man Angelina Jolie sein. Auf Diät.
Robert zeigt auf den Königsjodler
Doch bereits nach wenigen Minuten ist der Spuk auch wieder vorbei, der Fels fest, und der Weg einfacher. Steil bleibt es trotzdem. Bei Schneelage eine Kamikaze-Aktion. Direkt an den Türmen des Königsjodlers steigen wir zurück ins Tal. Wunderbar, um die schnelle Tour noch einmal Revue passieren zu lassen.
Laufend zurück zur Erichhütte

Mythos oder Wahrheit?

Um 11.20 Uhr erreichen wir wieder die Erichhütte. Sechs Stunden nach unserem Aufbruch. Hüttenwirt Ludwig Bürgler entschuldigt sich. “Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich euch nicht die Ohren vollgesudert”. Seine Entschuldigung ist mir unangenehm. Der Mann hatte schließlich recht. Mit allem.
“Quality Time” auf der Erichhütte
Der Mythos um den Königsjodler ist aufgebauscht, überzogen, teilweise hysterisch. Doch der Steig ist ein Abenteuer. Für versierte schnelle Kletterer genauso wie für langsam bedächtige. Und niemand kann allen Ernstes sagen: “Da geht’s um nichts”. Weil, dann geht’s sehr wohl um was. Um dessen gesunden Geisteszustand.
Die Wahrheit liegt in der Mitte. Zwischen Flower Tower und Hohem Kopf. Zwischen “Nicht an einem Tag machbar” und “Eine schnelle Geschichte”. Eines ist gewiss: Das Erlebnis ist ein großes, und ein Notausstieg keine Niederlage.
 

“Es kommt auch bei mir im unbekannten Gelände gelegentlich vor, dass sich die Realität (Gelände) nicht mit meiner Erwartung und Vorstellung deckt. Ich habe die Erfahrung gemacht, es ist besser meine Vorstellung zu überdenken, als die Realität zu bezweifeln. Das erleichtert die Orientierung ungemein.”

Als ich mich um drei Uhr auf meinen Bürosessel niederlasse, ist der Zauber noch nicht verflogen. Bevor ich die Arbeit beginne, schreibe ich vier Wörter auf ein Blatt Papier. Einfach, weil ich sie sonst nirgends loswerden kann.
Lang lebe der König.
Auch Renate lebt weiter. Im Königreich der Himmel.