Am 14. Juli 1865 war drei Österreichern und einem Schweizer in der Silvretta die Erstbesteigung des 3.312 Meter hohen Piz Buin gelungen. 150 Jahre später folgte Gabriel Egger ihren Spuren.

 

Galtür und sein “Matterhorn”

Ein ganzer Ort versinkt im Chaos. Die Farbe der Fassaden unterscheidet sich nicht mehr von der Farbe der Straßen. Alles ist eintönig und weiß. Längst  hat der Schnee sich über alle herrschenden Regeln und Gesetze hinweggesetzt.  Dann ganz plötzlich wird es laut. So laut, dass man nicht einmal mehr die eigene Stimme vernehmen kann. Minuten vergehen und dem ohrenbetäubenden Tosen folgt Grabesstille. Eine Lawine hat sich im Februar 1999 von den steilen Südhängen des Sonnbergs gelöst und mehr als 50 Menschen verschüttet. Nicht alle konnten lebendig aus den Schneemassen befreit werden. Die Lawine löschte Existenzen aus ,zerstörte Strukturen und begrub Hoffnungen und Ziele unter sich. An diese Geschichte wird der Mensch unweigerlich erinnert, wenn er den Namen “Galtür” hört. Doch die 800-Seelen -Gemeinde im hinteren Paznaun, im Bezirk Landeck in Tirol hat einen Weg gefunden, einen großen Schritt in die Zukunft zu setzen und die Vergangenheit dennoch nicht zu vergessen.

Der Blick von der Gorfenspitze

Der Schatten der Gorfenspitze begleitet den Besucher, wenn er abends über den Dorfplatz spaziert.” Das Matterhorn von Galtür” nennen es die Einheimischen. Tatsächlich erinnern die schroffen Wände ein bisschen an das felsige Wahrzeichen der Schweiz. Mit ein bisschen Glück spielt dann auch das “Syndikat” , die ansässige Musikappelle und lässt das Ambiente mit der heimlichen Landeshymne “Dem Land Tirol die Treue”  noch traditioneller wirken. Die Luft ist frisch und sauber auf 1.600 Metern Seehöhe, der Verkehr überschaubar. Nur die Busse, die die Touristen zu den Ausgangspunkten für Wanderungen und anderen Freizeitaktivitäten bringen, stören für eine kurze Zeit die Ruhe im Gebirgsdorf. Wäre Tirol eine Zipfelmütze, Galtür wäre der Bommel. Im hintersten Eck des Bundeslandes gelegen,  verbindet es Althergebrachtes mit Modernität. Der Besucher merkt die Bemühungen der Gemeinde sich von seiner besten Seite zu präsentieren.

 

Die Kletterwand

“Wir leben seit jeher vom Tourismus. Er ist der Motor, der uns antreibt” sagt  Bürgermeister Anton Mattle. Seit 23 Jahren ist er ganz oben in der Verwaltung der Gemeinde. Ganz oben, das  ist auch das Motto der Dauerausstellung im Alpinarium. Ganz oben, von der Dachplattform des Museums, hat der Besucher nicht nur einen imposanten Blick auf die umliegende Bergwelt, sondern er steht gleichzeitig auch auf dem höchsten Punkt “der Mauer”. Diese wurde nach der Lawinenkatastrophe 1999 errichtet und steht seit jeher gleichzeitig schützend und mahnend vor den Häusern Galtürs. Die Erinnerungen bleiben, die Perspektive verändert sich. So auch, wenn man plötzlich in dieser Mauer an einem Seil hängt.

Die Rückseite des 25 Meter hohen Walls, wird als Klettergarten genutzt. Jung-und Alt können sich spielerisch dem vertikalen Genuss hingeben. Die  großen Steine in der Wand, die das Klettern erleichtern, sind so gesetzt worden, dass sie optisch den umliegenden Bergen ähneln. “Wir sind alle mit den Bergen aufgewachsen. Wir wollen die Schönheit, aber auch die Ehrfurcht weitergeben” sagt Christoph Pfeiffer. Auch für den Bergführer war es schwierig nach dem Unglück, weiterzumachen. “Wir wissen viel, aber alles können wir nicht wissen” erzählt er von einem Ort im Wandel. Mit neuen Klettersteigen versucht die Bergführerschaft Touristen nicht nur für Schwünge im Tiefschnee in den Paznaun zu locken.  “Wir haben noch soviel mehr zu bieten. Schliesslich gehört uns auch der Piz Buin” ergänzt der Bürgermeister. Der Piz Buin, für viele mehr Sonnencreme als Berg, ist der höchste Punkt Vorarlbergs, liegt aber zur Hälfte im Schweizer Kanton Graubünden. Wie darf man das jetzt verstehen? Ein Berg, der zwischen Vorarlberg und der Schweiz liegt, aber Tirol gehört? Ganz richtig.

Mit dem Kauf der Alpe Vermunt im Jahr 1900 von der Engadiner Gemeinde Ardez wurde Galtür einer der größten Grundbesitzer im Land Vorarlberg und somit auch bis heute “Eigentümer” des Piz Buins. Der dreigeteilte Berg ist auch ein Identifikationssymbol, das der Umgebung goldene Zeiten gebracht hat. Nicht nur  Tirol und Vorarlberg, auch der Haut. Zumindest wenn es nach Franz Greiter geht. Der Chemiestudent entwickelte nach einer Tour auf den 3.312 Meter hohen Berg, bei der ihm die Sonne erbarmungslos das Gesicht verbrannt hatte, eine der ersten Sonnencremes der Welt. Seit 65 Jahren schützen sich “Sonnenanbeter” nun schon mit Piz Buin. Das haben wir auch Joseph Anton Specht, Jakob Pfitscher, Franz Poll und  Johann Jakob Weilemann zu verdanken. Drei Österreicher und ein Schweizer aus St. Gallen. Diese Pioniere des Alpinismus standen am 14.Juli 1865 als erste Menschen am Gipfel und hatten dabei nicht nur einiges an Selbstvertrauen, sondern auch an Schnaps getankt. Das geht aus den detaillierten Aufzeichnungen der Alpinisten hervor, in denen häufig ein “Schlückchen Mut” getrunken wurde. Die Flasche wurde als “Zeichen der Eroberung” mit einer Botschaft versehen und zurückgelassen. Der Mut hatte sich bezahlt gemacht.

Die Wiesbadener Hütte und der Piz Buin

Sie hatten noch nicht die Möglichkeit über die Silvretta-Hochalpenstrasse zur Bielerhöhe zu gelangen, dem Ausgangspunkt für die “moderne” Besteigung des Piz Buin. Traumhaft schlängelt sich die breite Asphaltstrasse durch die sattgrüne Umgebung. Ringsherum grüssen die hohen Gipfel herab, als würden sie die Gipfelaspiranten auf das bevorstehende Abenteuer vorbereiten wollen. Viele Menschen warten hier darauf, dass es endlich losgeht. Dass sich das Tor zum Abenteuer Piz Buin, von dem man zuvor soviel gelesen, soviel gehört hat, endlich auch für sie öffnet. Das Wasser des Stausees glänzt im Sonnenlicht, das immer wieder durch die dicken Wolken bricht. Ein kühles Mohrenbräu, das Bier des Landes,  mundet im bereits vorarlbergerischen Gasthof bevor es sanft steigend neben dem kühlen Nass dahin geht . Bald lassen steile Serpentinen den Atem schwerer und die Beine müder werden. Nicht mehr lange und der Wanderer hat die Wiesbadener-Hütte erreicht. Von dort sieht man ihn dann auch zum ersten Mal, den Gipfel der Träume. Die Hütte ist ein Prachtexemplar, in Ausstattung und Größe und dennoch ist sie bis zum letzten Platz gefüllt. Keiner will sich die besondere Atmosphäre entgehen lassen um am Tag der Erstbesteigung den Mythos am eigenen Körper spüren zu können. Dort wo auch die drei Österreicher und der Schweizer Weilemann standen und ehrfürchtig auf den damals noch imposanten Gletscher blickten. Der Mythos, er kommt nicht etwa von einer tragischen Besteigungsgeschichte oder unerklärlichen Vorkommnissen rund um den Berg. Er ist hausgemacht. Die Begeisterung der Regionen rund um den “Buin” ist ansteckend. Ja, er ist beinahe ein Wahrzeichen geworden.

 

Jubiläumsmenü

Das Abendessen ist typisch für Tirol, aber auch für Vorarlberg und für die Schweiz. Ganz wie der Berg. Einer kräftigen Rindssuppe mit Speckknödel folgen Keesspätzli mit Apfelmus und wem das noch nicht süß genug ist, der kann mit Rüblikuchen nachhelfen. Langgediente Bergführer erzählen von ihren Erlebnissen und Begegnungen. Zum Beispiel von jener mit einem übergewichtigen Alpinisten. “Den mit 120 Kilo ans Seil zu nehmen, war eine echte Herausforderung.  Noch dazu zu zweit am Gletscher” erzählt Albrecht Bitschnau. Irgendwie haben sie es dann doch geschafft. Nach dem Erfolg am Piz Buin wollte der “nimmersatte” Bergsteiger auch noch auf die Dreiländerspitze. Nicht mit Bitschnau. “Ich hab ihn dann einfach an einen Kollegen abgegeben und hab mich klammheimlich aus dem Staub gemacht” lacht er. Ein Raunen geht durch die Menge. Lichter hoch oben am Himmel! Lichter, die vom Gipfel des Berges kommen, aber kein Gewitter ist in Sicht. Nur der Wind braust unaufhörlich und lässt die Schindeln des Daches erzittern. Die Bergführer aus Tirol, Vorarlberg und der Schweiz  haben die Wände erleuchtet, stehen oben in der Kälte, in der Dunkelheit. Und der Buin? Der versteckt sich ungeniert in den Wolken, dieser Ochs! Und das ist gar nicht so beleidigend, wie es klingt. Der rätoromanische Name des Berges lautet “Ochsenspitz”. Auch der einst weitläufige Gletscher trägt darum den Namen “Ochsentalgletscher”.

Bergführer Christian

Auf diesem gilt es am nächsten Morgen dem Gipfel entgegenzuschreiten. Tiefe Wolken hängen rund um die Gipfel. Man spürt ihn wieder, den Mythos. Immer wieder lugt die Sonne kurz hervor, motiviert die Bergsteiger. Diese werden von erfahrenen Bergführern begleitet. Einer davon ist Christian. Elfmal war er schon am Matterhorn, über zwanzig Mal am Piz Buin. Auch das “Hörnli”, wie es die Schweizer liebevoll nennen, wurde am 14. Juli desselben Jahres erstbestiegen. Eine tragische Erstbegehung mit Toten und vielen Diskussionen. Darum herrscht dort heute Betretungsverbot. “Das ist eine Sache der Ehre” sagt Christian. Passiert ist dem 50-Jährigen noch nie etwas. “Meine Ausbildung war hart, aber ich habe auch sehr viel Glück gehabt” sagt er. Er liebt seine Arbeit, nur gebraucht will er werden. “Wenn ich den Eindruck habe, der Gast braucht mich gar nicht, dann ist es auch für mich nicht lohnend” erzählt der gebürtige Schweizer, während er sich um die richtigen Knoten im Seil kümmert.

Jetzt geht es steil hinauf auf den Gletscher. Die Zacken der Steigeisen bohren sich ins ewige Eis. “Früher, müsst ihr wissen, war der Gletscher hier noch richtig wild. Das Klima verändert sich drastisch” erzählt er. Mehrere Meter ist das Eis hier zurückgegangen, der Weg der Erstbegeher über das Wiesbadener Grätle ist deswegen auch nicht mehr zu begehen. Dort wo sich die vier Pioniere einst zum Gipfel gekämpft haben, fliegt brüchiges Gestein von den Wänden. Sie haben den Weg freigemacht und doch ihren eigenen geschaffen. Die Buin- Lücke ist erreicht. Von hier aus sind es noch etwa 200 Höhenmeter bis zum Gipfel, der über den Nordwestgrat erklommen wird. Die Steigeisen werden abgelegt, die Freude bleibt. Die Füße treten an jene Stellen, die genau heute vor 150 Jahren zum ersten Mal berührt wurden.

Am Gipfel des Piz Buins

Der Weg führt über loses, blockiges Gestein bis sich die ersten Kletterstellen vor dem Begeher aufbauen. Ein Kamin muss überwunden werden. Ein Griff, ein Spreizschritt und schon ist der breite Gipfelhang in Sicht. Ein Fußballfeld mitten im GebirgeWie sich die Erstbegeher wohl gefühlt haben müssen?

“Das Auge schwelgt im Anblick der rings am Himmelssaum funkelnden Firne, das Herz fühlt sich ergriffen von der feierlichen Stimmung, die durch den unermesslichen Raum weht.“ schrieb Weilemann einst.

Die feierliche Stimmung ist auch am heutigen Tag nicht zu überhören. Die Musikkapelle hat sich am Gipfel eingefunden und spielt den Bozner Bergsteigermarsch. Traditionen, die die Bewohner rund um den 3.000-Meter “Hünen” nicht aufgeben wollen. Das freut auch den Landeshauptmann von Vorarlberg Markus Wallner und den Vize von Tirol Josef Geisler, die stolz über ihr Land blicken, wenn es die Wolken wiedereinmal freigeben. Eine historische Seilschaft, bestehend aus Bergführern der Region, erklimmt in traditioneller Manier den Gipfel. Ganz im Sinne der Erstbegeher. Mit einem Hanfseil um den Bauch ,einer Idee im Kopf und dem Mut, sie endlich umzusetzen. Was für eine enorme Leistung die Alpinisten damals erbrachten, kann einem angesichts der verhältnismäßig kleinen Strapazen nicht bewusst werden. Keine gemütliche Hütte lud zur Rast ein, keine Funktionsbekleidung half dem Körper durchzuatmen und kein strahlendes Empfangskomitee erwartete die Erstbesteiger. Nichteinmal Gewissheit, ob sie denn die ersten auf diesem Gipfel wären.

 

Die traditionelle Seilschaft erreicht den Gipfel

 

Der sonnige Weg zurück

Die Sicht über die Silvretta, die hohen Schweizer Berge, über die weitläufigen Gletscher und Täler haben aber schon damals für die Mühen entschädigt. Auch die Berge, haben nur optisch an Glanz verloren. Sie sind Lehrmeister geblieben. Sie können den Menschen vieles offenbaren, aber auch vieles verbergen. Sie können vieles geben, aber noch mehr nehmen. Sie können lebendig machen, aber auch betrübt.

Am Weg zurück hat auch die Sonne ihren Kampf gegen die Restbewölkung endlich gewonnen und reflektiert im Schnee. So muss sich also der Chemiestudent Greiter gefühlt haben. Dieser unbändig heiße Ochsentalgletscher.

Christian verabschiedet sich. Er hat einen weiteren Gast, auf der anderen Seite des Buins. Natürlich will er diesen zu Fuß empfangen. Zurück auf der Wiesbadener Hütte gilt die Aufmerksamkeit weiterhin Vorarlbergs höchster Erhebung. 3.312. Es sind nur Zahlen, aber dennoch beeinflussen sie eine ganze Region. Über Jahre, über Jahrhunderte hinweg.

Auch entlang des Sees, wo die Knie sich freuen wenn sich das Gefälle zurücklegt, sind die Gedanken noch hoch oben im Ochsental. Am Gletscher, am Grat, am Piz Buin. Die Bergsteiger verlassen die Region nach einigen Tagen wieder. Die Begeisterung der Region, der selbst erschaffene Mythos, er bleibt.

Weitere zahlreiche Bilder findet ihr im angehängten Fotoalbum. DANKE an Dieter Wissekal (www.bergsteigen.com) und an den Tourismusverband Paznaun-Ischl (www.paznaun-ischgl.com) für die Bereitstellung unzähliger Fotos.