Ein Rückblick auf die  intensivsten Touren der vergangenen vier Jahre. 


Gefährliche Entscheidungen: Hochgolling (2.862m) via Nordwestgrat (II) beim ersten Wintereinbruch am 13. Oktober 2013 
Von Gabriel Egger



“Mir geht’s nicht gut “. Fast auf den Tag genau zwei Jahre ist es her. Die goldene Farbe des Oktobers, ausgebleicht, die Gesichter aschfahl.  “Ich schau nur noch um die Ecke” . Beim Gedanken daran, schießen die Endorphine immer noch durch den Körper, wie die polierte Stahlkugel beim Flipperautomaten. “Willst du umdrehen?” Der  Rückblick ist durch Einsicht getrübt, die Kugel hat das Spielfeld verlassen. Oben geht der Wind, da wird es besser”  Die geläuterten Gedanken streift ein schulterklopfender Blitz, geladen mit Zufriedenheit.  “Ich klopf den Schnee runter, dann steigst du nach”.  Das Abenteuer in seiner  Reinform, oder reiner Leichtsinn ?“Bleiben wir nur kurz, es ist schon so spät”. Erinnerung, du Wächter des Gehirns. “Das war unglaublich”.
 

Ignorierte Deutlichkeit

Als ich bei Matthias ins Auto steige, ist es totenstill. Die Sterne funkeln, der Mond sitzt pappsatt am Himmelszelt. Richtig rund ist er geworden. Die Luft ist kalt, der Tag noch weit entfernt. Trägt nicht alles, was uns begeistert, die Farbe der Nacht?


Die Straßen in die Steiermark sind nass, die Müdigkeit weicht nur langsam. Die letzten Tage waren beherrscht von penetranten Regenfällen, der Nebel hat sich über die verfärbten Blätter gelegt. Wer konnte, flüchtete sich unter die warme Bettdecke und kroch nur beim Pfeifen der Teekanne darunter hervor. 
 
Am 17. Oktober 2011 habe ich im Gipfelbuch der Hohen Schrott (Bad Ischl, 1.839m) einen folgenschweren Eintrag hinterlassen. Indirekt habe ich mich dort entschieden, unsere Erlebnisse an die Öffentlichkeit zu transferieren. Matthias war somit mein Gefangener. Er trug die Handschellen jedoch gerne und bediente sich erst nach langer Zeit dem Dietrich. Zwei Jahre später, am 13. Oktober 2013,  wollten wir uns dafür selbst beschenken. Für zwei Jahre voller Erlebnisse, aber auch voller Arbeit und Hingabe. Der Hochgolling, höchster Berg der Niederen Tauern, an der Grenze zwischen Salzburg und der Steiermark sollte das Partyzelt sein. Konfetti hatte es in den letzten Tagen genügend vom Himmel geregnet- das wissen wir aber noch nicht.


Als neben den Straßen im Talort Schladming der Schnee neben der Fahrbahn liegt und die Blinklichter der Räumfahrzeuge den Sonnenaufgang einläuten, hätten wir stutzig werden können. Doch auch der völlig verwaiste Parkplatz bei den Riesachfällen ist für uns kein Grund, die Entscheidung zu überdenken. Als wir aus dem Fahrzeug steigen, treten wir in eine kalte Atmosphäre. Die Luft riecht noch nach dem letzten Schneefall. Wir spazieren den Steinriesenbach entlang, hinein Richtung Gollingwinkel. Im Sommer als größtes Amphitheater Österreichs bezeichnet, sind seine Plätze heute leer. Alle Vorstellungen wurden abgesagt. Die umliegenden Berge glänzen in weißer Farbe. 


Es ist üblich zu einer Geburtstagsfeier Geschenke mitzunehmen. Zumindest solche, die Anteilnahme suggerieren, aber nicht wirklich gebraucht werden. Pralinen für die Oma, die Diabetes hat. Blumen für die Mama, die sich vor lauter Sträußen schon einen Zoo einrichten könnte, oder eine Flasche Wein für den Onkel Willi, der sich seit Wochen klammheimlich zum Treffen der Anonymen Alkoholiker schleicht. 


Für diese besondere Feier in den Bergen, sollte man , bei prognostiziertem Wintereinbruch, zumindest Steigeisen und Pickel schön säuberlich verpacken. Tja, wir waren schon immer unverschämte Rotzlöffel.



Karussellfahrt durch’s Gebirge

Die geschlossene Gollinghütte ist erreicht. Hier ist es schon richtig winterlich und langsam bekommen wir doch ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend. Auf 1.641 Metern umdrehen, das können wir aber auch noch nicht. “Schauen wir mal” wird zur antwortenden Phrase auf alle sich stellenden Fragen auserwählt.
Die Gollinghütte
Der Weg in das hinterste Eck des Gollingwinkels ist von ständigem Rauschen begleitet. Unter der geschlossenen Schneedecke fließt ein Bach, erinnert daran, dass eigentlich noch der Herbst das Sagen hätte. Der wurde aber mundtot gemacht- und wie. Die Nordwand des Hochgollings taucht auf und sofort verknüpfe ich sie mit dem Himalaya und einem der größeren Berge dieser Gebirgskette, dem Manaslu. Ich habe bis heute nicht nachgesehen, ob die beiden Berge nur ansatzweise eine Ähnlichkeit aufweisen- diese Illusion möchte ich mir bewahren. Nun steht endgültig fest, dass die Unternehmung auf Messers Schneide steht.
Der Spaziergang in den hinteren Gollingwinkel- Davor thront die “Manaslu”-Nordwand
Beim hinteren Gollingwinkel, auf 1.710 Metern, angekommen, offenbart sich uns ein Bild, das wir sonst nur von unseren Skiurlauben kennen. Vor uns erstreckt sich eine lange, steile Piste. Nichts außer Schnee, unpräpariert und bereit für die ersten Spuren.  Nur blöd, dass wir keine Bretter mithaben, und das eigentlich der erhoffte Wanderweg zur Gollingscharte ist. Satte 600 Höhenmeter sind es bis dorthin. Wir entscheiden schon nach den ersten Metern abwechselnd zu spuren, zu tief sinkt man hier ein. Bis zur Hüfte stecken wir im frischen Neuschnee. Wir kennen den Weg ab der Gollingscharte nicht, aber wir können uns durchaus vorstellen, dass der nicht leichter wird. Und dann auch der Nordwestgrat. Klettern bei diesen Bedingungen. Naja: “Schauen wir mal”.
 
Der Weiterweg zur Gollingscharte
Rückblick
Es keucht und fleucht in Niederen Tauern. Zwei Bergsteiger, kämpfen sich wie Ameisen, hoch zur Gollingscharte. Auf 2.326 Metern stockt uns nicht nur wegen der Anstrengung der Atem. Es gibt hier keinen Weiterweg. Nichts Erkennbares. Weder Markierungen blitzen unter der Schneedecke hervor, noch sind hier irgendwo Spuren eines Steiges. Matthias setzt zum ersten vernünftigen Gedankengang an: “Glaubst du wirklich, dass wir da raufkommen?” und lässt ihn bald wieder fallen, denn ich dränge auf die Fortsetzung. Mit Stufenschlagtechnik queren wir den ersten steilen Hang. Verdammt, ist das unangenehm. Überall pfeift es nach unten, der Schnee ist locker, der Fels darunter auch.
Die Gollingscharte, eingenommen von Schnee und Eis
Es geht weiter…
…und wie. (Wer den Horizont betrachtet, darf durchatmen)
Die letzte Querung hatte es in sich. Überall Eis, kaum Halt. Mein Magen dreht sich um. Das kenn ich gut. Zuerst eine Schaumrolle, dann ein mit Schokolade überzogener Spieß und dann eine Fahrt mit dem Karussell. Nur sind wir hier nicht auf der Spielwiese des Urfahraner Jahrmarktes. Wir sind auf gar keiner Spielwiese. Das einzige Spiel, das wir hier spielen, ist jenes mit unseren Leben. Und das will ich nicht mehr. Ich will umdrehen, auch wenn es weh tut. “Was ist los?” Matthias ist einige Meter über mir, hat sich durch schneebedeckten Schotter einen Weg abseits des Pfades gesucht. “Mir geht’s nicht gut. Glaubst du wirklich dran, dass wir da heute noch oben stehen?”. Matthias will weiter, will nur mehr um die Ecke schauen. Wir klettern weiter, sind irgendwo mitten in der Westflanke. Das Wetter spielt mit, die Wolken erzeugen Stimmungen aus dem vielzitierten Bilderbuch. Siehe da, es geht wieder. Der Magen hat den Schock verdaut. Behutsam queren wir abschüssige Schneehänge, bis sich endlich das erste Anzeichen menschlicher Hinterlassenschaften vor unseren Augen erhebt. Eine Tafel steht da mitten im Schnee. “Historischer Weg”- rechts. “Nordwestgrat”- links.
“Schau mich nicht so an, die Entscheidung hast du doch längst gefällt” sagt Matthias und verzieht seine Mundwinkel zum ersten Schmunzeln seit wir uns auf der Hinfahrt über den letzten Umtrunk unterhalten haben. Wir wenden uns nach links und klettern einige einfache Stellen nach oben, bevor uns der Anblick fast erschlägt. Eine Gratschneide aus den Westalpen liegt vor uns, der Wind lässt die Schneekristalle im Sonnenlicht tänzeln, die Wolken drücken gegen den Gipfelaufbau und alle Anspannung ist für wenige Sekunden vergessen.
Der Nordwestgrat beginnt
Was für eine Szenerie
Direkt über der Nordwand turnen wir nun über die ersten Boten des Winters. Anfangs geht das ganz einfach und wir haben große Freude dabei. Je höher wir aber steigen, desto unangenehmer werden die Verhältnisse. Die Aufschwünge sind jetzt mit Eis überzogen, das ausgesetzte Gelände wirkt noch luftiger. Steigeisen, ein Königreich für Steigeisen! Wir schauen zurück- umkehren wollen wir nicht mehr. Zu weit sind wir gekommen, zu schwierig könnte es werden. Dann eine kurze Querung in die direkte Nordseite, ein schwererer Aufschwung (II). Windel, ein Königreich für eine Windel! Ein falscher Schritt und es geht die 1.200 Meter hohe Nordwand hinunter. Ein schneller, aber tödlicher Abstieg. Ich übernehme die Vorhut, befreie die Felsen zuerst vom Schnee, um besser sehen zu können, ob sich da unten nicht doch eine Eisplatte befindet. Ein kurzer Schwung, den Hintern in die Nordwand gestreckt und schon bin ich oben. Matthias kommt nach. Bald haben wir es geschafft. Wenn diese blöden Abkletterstellen nicht wären. Im Sommer pures und einfaches Vergnügen, jetzt im angespannten Zustand bei Neuschnee und Eis eine echte Herausforderung.
Die letzten Meter am Hochgolling-Nordwestgrat
Wir können den Gipfel schon sehen, bis dorthin ist es nur mehr Gehgelände. Die Last fällt nicht ab. Die Nervosität bleibt konstant hoch. Der höchste Punkt ist erreicht, das hölzerne Kreuz ist gezeichnet vom frühen Winter. Das arme Ding scheint nicht vorbereitet gewesen zu sein, ganz so wie wir. Nur wir hätten es besser wissen müssen, auch mit einem Holzkopf.
Am Gipfel des Hochgollings
Es ist nicht jener Gipfelmoment, der uns immer in Büchern und Zeitschriften entgegenspringt, uns als die Erlösung präsentiert wird. Kein befreiender Moment, kein Gefühl der Unendlichkeit, keine Erleichterung. Kein “Sieh dir diese fantastische, kleine Welt unter uns an”. Die Nerven ziehen sich zusammen, lösen einen geistigen Krampf aus, zerstören das idyllische Bild, das wir uns aus Eis und Schnee gemalt haben. “Wir müssen da auch wieder runter, am besten jetzt sofort.”. Es löst sich ein Brett aus Schnee und lockerem Fels unter uns. Wir wissen noch nicht einmal, was uns erwartet, wissen nur, dass wir nicht mehr über den vereisten Grat wollen.
Nicht einmal zehn Minuten rasten wir. Es ist 14.40 Uhr, die Sonne verabschiedet sich im Oktober schon sehr früh. Matthias versucht uns mittels GPS den Einstieg zum Normalweg finden zu lassen. Wir finden ihn nicht. “Das war’s jetzt. Auweia. ” Ich male mir schon die Einspalter in den Zeitungsberichten aus. “Linzer Bergsteiger mussten Nacht am Hochgolling verbringen”. Gut, dass diese Schlagzeilen erst eine Woche  später im Toten Gebirge aus der Fiktion in die Realität geholt wurden.
Matthias aber behält die Nerven, verschießt diesen Weltmeisterschaftsfinale-Elfmeter nicht. Er steigt einfach hinab in die Westwand und erblickt eine Markierung. Nochmal hoch, an einer anderen Stelle wieder in die Flanke einsteigen. Dass der Normalweg heute noch viel schwerer als der Grat ist, merken wir schnell. Wir werden zu richtigen Querulanten. Nicht weil wir unbeirrt, und ohne große Erfolgschancen auf diesen Berg gestiegen waren, sondern weil wir hier eigentlich nur abschüssige Hänge queren müssen, die uns nicht unbedingt ein Sicherheitsgefühl bescheren. Die Sonne reflektiert am Neuschnee, bringt uns tropischen Flair und durchnässt die Kleider.
Die Querung beginnt. Links im Bild eine der wenigen zu erkennenden Markierungen
Gleich geschafft
Die vielen Klammern und Trittstifte, die hier im Sommer den Aufstieg erleichtern sind irgendwo zwischen Eis, Schnee und Geröll. Es sind nur wenige Höhenmeter, ungefähr 300, aber es fühlt sich an als würden wir vom Everest-Gipfel in einem Zug durch zum Basecamp absteigen. Kaum macht sich Erleichterung breit, kommt die nächste Querung. Irgendwann muss das doch aufhören. Irgendwo müssen wir wieder auf unsere Aufstiegsspuren treffen.
Die nächste Querung
Wir rutschen über eine sanfte Rinne nach unten und endlich ist die Tafel wieder zu sehen. Eine Tafel,die heute als Heilsbringer fungiert und doch eine täuschende Funktion hat. Wir bleiben kurz stehen und werfen einen Blick auf diese unglaubliche Landschaft.
Sensationelle Szenerie
In unseren Spuren kämpfen wir uns zurück zur Gollingscharte, wo die Erleichterung endlich einsetzt. Wir haben’s geschafft. So einen Geburtstag wünsch ich mir für mich persönlich auch. Euphorisch glaube ich am Hosenboden bis zum Gollingwinkel abrutschen zu können. Ich springe auf die “Piste” und lande mit dem Knie auf einem Stein, der mir ein ordentliches Loch in die geliebten Beine schlägt. Ein zweifelhafter Abschluss einer zweifelhaften Tour. Dass ich wenige Meter später meinen Bergschuh verliere und 40 Höhenmeter in Socken durch den Schnee wate, soll auch nicht unerwähnt bleiben.
Zurück auf der Gollinghütte hat sich die Sonne bereits verabschiedet. Der dicke Mond, der langsam aber sicher seine Neumond-Diät beginnt, leuchtet uns den Weg und macht die Stirnlampen überflüssig. Um 20.00 Uhr erreichen wir die Wärme des Automobils.
“Haarscharf” sage ich zu Matthias, während ich ihm die Hand reiche. “Haarscharf” antwortet er und startet den Motor.
Eine Woche später kam nach diesem Hochmut, dann doch der Fall. Aber das ist eine andere Geschichte.Die bewegten Bilder zur bewegenden Geschichte gibt es hier: