24 Stunden Traunstein


10. September 2015- 11. September 2015

7.350 Höhenmeter, 65 Kilometer Wegstrecke

Wenn der Körper Nebensache wird


Von Gabriel Egger





Der Linzer OÖN-Mitarbeiter Gabriel Egger (25) und der 19-jährige Moritz Mayer gehen morgen Nachmittag an die ungewöhnlichste Traunstein-Dauerbesteigung, seit Rene Steinpatzer den großen Gmundner Hausberg im Oktober 1999 innerhalb von 23 Stunden und 58 Minuten zehnmal erklomm: Das junge Alpinisten-Duo hat vor, das Gipfelkreuz innerhalb von 24 Stunden über sieben verschiedene Routen zu erreichen. Der Start erfolgt morgen, um 17 Uhr, beim Gasthof Hois’n.  – Oberösterreichische Nachrichten vom 9. September 2015



Die Anspannung ist auf dem Siedepunkt. Sie hat es der Wärme der Sonnenstrahlen gleichgetan, die nun endlich den Kampf gegen die Restbewölkung gewonnen haben. Es köchelt am Traunsee-Ostufer, alles scheint angerichtet. Das Herz pocht so laut, dass ich fürchte, es sei noch bis weit hinein nach Gmunden hörbar. Ein kurzer Blick über den Steg Richtung Gasthof Hois’n. Niemand hier, der die Signale des Körpers zu deuten vermögen könnte. Außer meinem Freund und Leidensgenossen, dem Mitarbeiter in der seltsamen Ideenschmiede, den Augen, die mich in den nächsten 24 Stunden hoffnungsvoll, freudig und verzweifelt anblicken werden. Moritz kann die Nervosität sehr wohl riechen, haftet ihr Geruch doch auch an ihm.

Es ist nun kurz vor 17.00 Uhr und beruhigende Musik säuselt durch die Kopfhörer, versucht den Puls zu beschwichtigen und den Geist mit dem Körper, der noch gar nicht weiß, was auf ihn zukommt, in Einklang zu bringen. Ein letztes Mal werden die Aufstiege in Gedanken wie Mosaiksteine zu einem Plan zusammengefügt. Die Beine tun mir schon jetzt ein bisschen leid. Ich stell mir dann immer vor, sie würden ein Eigenleben führen und selbst über die Verbrechen, die sie ertragen müssen, reflektieren.

Beim ersten Anstieg noch ganz locker: “Ja,  auf den Traunstein wiedermal, der kennt halt nix anderes”
Beim zweiten Aufstieg schon nervöser: “So ein Narr, ein zweites Mal muss er auch noch gehen”
Beim dritten Mal dann wütend und rachsüchtig: “Das ist jetzt schon das dritte Mal, der Koffer hat wieder irgendetwas vor. Den lassen wir bald nicht mehr gehen. Sag’s den Muskeln, die sollen sich zusammenziehen!”




Es ist 16.56 Uhr. Monate voller Ankündigungen, Berichten, Vorfreude und Zweifel liegen hinter uns. Unser Freund Hans parkt das Auto in diesem Moment beim Kaisertisch und lässt es zur Labestation werden. Schwer bepackt wird er über den Mairalmsteig aufsteigen um auch bei der Gmundnerhütte eine Labestation einzurichten. Wahrlich ein guter Freund.

Das letzte Bild, bevor das Abenteuer beginnt. 

“Seid’s ihr die Zwei?” Jetzt ist doch noch jemand gekommen, um sich den Start in ein irrwitziges Abenteuer nicht entgehen zu lassen.  Es ist eine Frage, die sich in allen möglichen Variationen durch die gesamten 24 Stunden ziehen wird. Über sieben Steige wollen wir den Gipfel unserer Muse erreichen. Wir wollen steigen, klettern, laufen, lachen, fluchen, gemeinsam leiden und gemeinsam gewinnen. Was kann man da gewinnen, abgesehen von einem ausgewachsenen Muskelkater und der Garantie auf kaputte Gelenke ? Erfahrung an der Grenze der Leistungsfähigkeit, neue Perspektiven, neue Anreize, Zufriedenheit und ja, auch ein kleines bisschen Stolz.

16:59:52: Die schwitzigen Hände vereinen sich zu einem “High-Five”. Es kann losgehen. Vom Gasthof Hois’n auf 420 Metern Seehöhe eilen wir nun zum Gipfel eines Berges, den wir gut kennen, aber der uns heute vor eine schier unlösbare Aufgabe stellt. Nun gut, der Berg tut gar nichts. Der steht nur imposant am Ufer des Traunsees.

Das Adrenalin befiehlt uns auf der Forststraße zu laufen. Schon nach wenigen Metern wissen wir, dass ein Wettkampf niemals so schön sein kann, wie eigens kreeirte, wenn auch etwas unorthodoxe Projekte.Wille und Begeisterung zählen hier mehr als stundenlanges Training.

Wir zweigen in die Kaltenbachwildnis ein und schon ackern wir uns über Schotter und Schrofen eine steile Rinne direkt hinter den Adlerhorst hoch. Hier stehen wir dann auch schon mitten am Zierlersteig, unserem ersten von sieben Wegen. Und der hat es eigentlich ganz schön in sich. Unmarkiert, oft sehr steil und im oberen Bereich auch durchaus mit einigen knackigen Kletterstellen garniert, mahnt der nordseitige Rinnenaufstieg zur Vorsicht. Zuerst aber müssen wir über Steilgras, Waldwege und Unterholz zum Zierlerberg gelangen.

Am Weg zum Zierlerberg (1.270m)

Nach etwas weniger als einer Stunde ist der auch schon erreicht. “Starten wir zu schnell?” frage ich Moritz, der sich gerade seine blonde Mähne zurechtrückt. “Hast du schon mal auf den Zeitplan geschaut, wir müssen zu schnell starten” antwortet der Jungspund und lacht. Wird ihm das Lachen noch vergehen, oder grinst er bald über beide Ohren? 23 Stunden bald zu nennen, zeugt auch von geistiger Umnachtung.

Der Zeitplan

Die Sonne beleuchtet den See. Er glitzert in den prächtigsten Farben und für einen Moment können wir sogar die Szenerie genießen. Der schroffe Fels unter unseren Fingern reißt uns jedoch schon bald wieder aus den Träumen der alpinen Gemütlichkeit. Es gilt über eine Wand den Einstieg in die Zierlerrinne zu erreichen. Moritz klettert los und lässt mich daran zweifeln, ob da vorne wirklich ein 24-Stunden-Traunstein-Begeher, oder ein vom Tiergarten ausgebüchster Affe das “Zierla” hochflitzt.
Auch die weiteren Stellen im zweiten Schwierigkeitsgrad können dank schimpansenartiger Manneskraft schnell überwunden werden und im kurzen Gehgelände laden sich die Batterien erneut auf.

Dann erreichen wir eine Querung, deren Felsen ohne Wasser zu verdursten scheinen. Noch nie bin ich ohne Nässe hier hinauf geklettert. Auch heute greifen meine Finger wieder in die obligatorische Latsche. Die Zehen kurz in einen Spalt geklemmt und mit einem ordentlichen Schwung stehen wir auch oberhalb der letzten Schlüsselstelle. Moritz grinst zufrieden zurück. Wir liegen vor der Zeit.

Beim Ausstieg aufs Plateau auf 1.660 Metern fällt der erste Blick auf unsere Unterkunft. Es ist eine ganz besondere: Nicht nur, dass unsere Herberge knapp unterhalb eines Berggipfels steht, nein sie hat heute Nacht auch keine Betten, keine Duschen, keine Minibar und schon recht keinen Wellness-Bereich. Die Gmundnerhütte wird sich heute Nacht dennoch zum 1.000-Sterne-Hotel mausern.

Um 18.34 Uhr öffnen wir zum ersten Mal das Gipfelbuch. 26 Minuten haben wir bereits herausgeklettert. Das Kreuz ist heute nur eine Hand, bei der es gilt abzuklatschen. Lange rasten wir nicht, denn die Pausen sind der wohligen Wärme der Gmundner Hütte versprochen.

18.34 Uhr: Nummer 1 von 7
Abendlicher Blick auf den Traunsee

“Hey, die zwei Narrischen! Servus! “. Max, Mitarbeiter und Musikant aus Leidenschaft, lässt mithilfe von Cola wieder die Lebensgeister in uns erwachen und verspricht uns für die nächste Ankunft ordentlich Salz in der Suppe.  Der syhmpathische Goiserer wird uns heute noch mehrmals behilflich sein. Um 18:53 Uhr verabschieden wir uns, lassen für Sekunden die abendliche Stimmung auf uns wirken und schießen den Hernlersteig bergab. 1 Stunde und 10 Minuten dürfen wir brauchen.

 

You’re the fighter you’ve got the fire


The spirit of a warrior, the champion’s heart……





….dröhnt es aus den Kopfhörern. Die Freude an der Sache ist unbeschreiblich. Und das schreibe ich nicht, um mich einer weiteren unnützen Floskel zu bedienen. Ich kann sie mit Worten wirklich nicht beschreiben. Das sich nach diesem Motivationslied Madonna als materialistisch outet, hätte ich wohl lieber verschwiegen.

Kurz vor Ende des Steiges wartet zu unserer Überraschung Philipp auf uns. Der Gmundener Fotograf, der mit seinen Bildern auch Servus TV schon überzeugen konnte, muss im Laufschritt knipsen, denn an ein Halten ist nicht jetzt nicht mehr zu denken.

Im Laufschritt den Hernlersteig bergab

Nach 38 Minuten stehen wir auf der Forststraße. Etwas ausgelaugt, um ehrlich zu sein. Philipp wünscht uns Glück, verabschiedet sich, und macht Platz für die nächste Überraschung. Der 17-jährige Lukas ist mit dem Rad von Ried im Innkreis nach Gmunden gefahren, um uns auf den Wächter des Salzkammergutes zu begleiten. Ich sag es immer wieder: “Die spinnen, die Innviertler”.

Es macht auch weiterhin Spass!

Erfreut  über diese Abwechslung, steigen wir nach einer kurzen Pause zum zweiten Mal auf den Traunstein. Und obwohl der Hernlersteig keine besonderen Schwierigkeiten aufweist, beginnt hier der wohl anspruchsvollste Teil der Geschichte: die lange, dunkle, kalte Nacht. Kurz vor dem Dachsteinblick (1.010m) brauchen wir dann auch die Stirnlampen. Lukas erheitert den Abend mit seinen Biwakplänen und wir werden somit weitgehend von der Anstrengung abgelenkt. Nach 1 Stunde und 10 Minuten spricht dann überhaupt niemand mehr. Die Nacht hat Besitz von uns ergriffen. Doch sie drückt mit ihrem kalten Schleier nicht wie erwartet aufs Gemüt, sondern fasziniert uns. Die Sterne leuchten herab, die Stille hat sich am Berg festgesetzt und die Zusammengehörigkeit manifestiert sich. Nach 1 Stunde und 38 Minuten stehen wir zum zweiten Mal am Gipfel. Es ist 21:20 Uhr.

Die Sonne geht am Hernlersteig unter

Die Magie der Nacht und ein festes Versprechen

Auf der Gmundner Hütte hat bereits der gemütliche Hüttenabend begonnen, als wir eintreten. Max serviert uns die Suppe, wir versalzen sie uns ordentlich um Krämpfen vorzubeugen. Ein Glas Cola folgt dem nächsten. Hans lacht vergnügt, als sich eine weitere Nudel aus meinem Mund Richtung Boden verabschiedet. Nach dem zweiten Anstieg liegen wir 40 Minuten unter der Zeit. Noch sind wir guter Dinge, haben genug Kraft und wir haben sogar noch Freude dabei. Um 22:02 Uhr treten wir nun endgültig über die Hüttenschwelle in eine lange Nacht. Wir haben uns vorgenommen bergab Tempo zu machen, um uns bergauf mit mehr Zeit zu beschenken. Der Mairalmsteig ist auch in der Dunkelheit kein Problem und nach 34 Minuten laben wir uns bereits am Kaisertisch. Cola und Müsliriegel stehen auf der Speisekarte. Also eher Gourmand statt Gourmet.  Zucker lautet das Zauberwort. Im Laufschritt geht es nun die Forststraße hinab zum Einstieg des Naturfreundesteiges. Nun vollziehen wir den Hattrick. Die Klammern fühlen sich bereits an, als würden sie weit auseinander liegen, jeder Schritt zehrt an der Muskulatur. Die Seilversicherungen wickeln sich gedanklich um die Beine. Jetzt muss schnell eine Idee her, ein lustiger Einfall, ein Zeitvertreib. Wir beginnen zu spielen. Nicht fangen, auch wenn uns das einiges an Zeit herausschlagen würde. Wir wünschen uns Menschen an unsere Seite, von denen wir gerne Geschichten hören würden, die uns motivieren würden, die uns belustigen würden. Es klappt. Wir stehen beim bösen Eck (1.400m)

Ich beginne zu husten. Die Anstrengung, gepaart mit der kalten Luft, lässt die Lunge erzittern. Moritz legt ein Tempo vor, das ich zu diesem Zeitpunkt nur schwer mitgehen kann. Ich zwinge mich und meine Beine dazu. “Mach schon, kämpfe” sage ich mir immer wieder. Dann stehen wir am Naturfreundehaus (1.580m) und die Lichter der umliegenden Ortschaften lassen uns inne halten. Einfach wunderschön.

Blick vom Traunstein zur ungefähren Ankunftszeit am Naturfreundehaus

Die Latschengasse zum Gipfel ist schnell überwunden und um 00.43 Uhr hinterlassen wir unsere Fingerabdrücke zum dritten Mal im Büchlein. Jetzt freuen wir uns auf eine längere Pause. In der Hütte brennt noch Licht. Max hat uns zwei Flaschen Cola und eine Menge an Schokolade auf den Tisch gestellt, bevor er sich ins Bett verabschiedet hat. Die letzten Gäste trinken noch am Gute-Nacht-Bier. Viele Fragen werden gestellt. Die Stimmung ist positiv, wenn wir auch als “die narrischen Zwei” abgestempelt werden. Gut, das sind wir ja  irgendwie. Meine Anspannung ist gestiegen, denn jetzt folgt der Ostgrat. Mitten in der Nacht. “Hoffentlich ist der nicht nass” denke ich ,während ich mir einen letzten Fruchtriegel zwischen die Zähne schiebe und sich mein Multitasking auf  Kauen und Schlucken beschränkt.

Um 01:25 Uhr laufen wir in Richtung Mairalm davon. 36 Minuten später machen wir uns durch die Kohlensäure im Cola lautstark bemerkbar. Wir legen uns auf den Boden und lauschen der Magie der Nacht. So ruhig und doch so gefährlich. So dunkel und irgendwie erhellt sie unsere Köpfe doch. Wir sind noch vorsichtiger, noch konzentrierter. Es muss weitergehen. Über steile Waldhänge traben wir der Hohen Scharte entgegen. Es ist klar, dass Moritz am Ostgrat die Führung übernimmt. Am Fels kann ich ihm nicht das Wasser reichen. Nicht nur im übertragenen Sinne geht das nicht, auch in Wirklichkeit. Zu schmal und ausgesetzt präsentiert sich der Grat im oberen Bereich.

Aber zu unserer Verwunderung geht alles ganz leicht. Die Felsen fühlen sich so vertraut an, der Sternenhimmel unter dem wir klettern,wirkt wie eine riesiger Teppich, der sich schützend um uns legt und uns das seltsame Gefühl von Geborgenheit gibt. Und das um 03.00 Uhr Früh mitten in einer der schwierigeren Routen auf den Traunstein. Bevor wir die ausgesetzten Stellen überwinden, setzen wir uns kurz auf einen Gratabsatz und blicken schweigend in die Nacht. “Verdammt ist das schön,” sage ich nach einiger Zeit”. “Ich will grad nirgends anders sein” antwortet mein Kumpane. Es fühlt sich tatsächlich ein bisschen nach Zauberei an. Wir spüren nichts von der Anstrengung, sind zufrieden und glücklich.

Diese Felsabschnitte sind zu überwinden

Mit wenigen Schritten sind auch die heikleren Stellen überwunden und wir nähern uns der Grünen Gasse, die zum Wendepunkt der Geschichte werden könnte. Wird sie aber nicht. Das unangenehme Schrofengelände ist trocken und so können wir konzentriert, aber ohne Probleme nach oben klettern. Im Schein der Stirnlampe bewegen sich Moritz Füße fast maschinell. Ein Schritt links, hochsteigen, ein Schritt rechts, hochsteigen. Auch die Arme scheinen einen Motor zu haben. Ein Griff links, hochziehen, ein Griff rechts, hochziehen. Dazwischen blendet mich immer wieder ein Licht. Moritz überprüfender Sicherheitsblick trifft mich. Dann ist es geschafft. Über die einzig wirklich anspruchsvolle Kletterstelle (II+), erreichen wir den Gipfel. 03:53 sagt die Uhr. “Das können wir schaffen” sagt wohl mein Gesichtsausdruck, denn Moritz antwortet, ohne gefragt zu werden: “Verschrei nichts, noch sind es dreimal”.


In der Hütte ist es ruhig geworden. Nur Lukas, der auf der Sitzbank schläft, begrüßt uns freudestrahlend. Mittlerweile haben wir unserem Zeitplan 1 Stunde und 26 Minuten abgenommen. Die Nacht ist fast überstanden und auch die Kräfte neigen sich noch nicht dem Ende zu. Wir pausieren lange, essen, trinken, reden, lassen den Körper verschnaufen.

Um 04:46 Uhr geht es zum allerletzten Mal in die Dunkelheit. Bald taucht die Sonne wieder auf und erwärmt den Traunstein und unsere Glieder. Der Mairalmsteig wird, wie gewohnt, mit Motivationsmusik überbrückt, bevor wir nach einer kurzen Pause um 05:33 Uhr den anspruchsvollsten Steig hinter uns bringen müssen. Wenn ich hier Steig schreibe, rastet in Aurolzmünster wohl ein junger Herr aus. Der Südgrat hat Moritz das Versprechen abgerungen, nie wieder zu kommen. “Das ist doch kein Steig, das ist ein bisserl Holz mit Felsen” schreit er in die Morgendämmerung. Im Minutentakt echauffiert sich mein Freund über den Südgrat. Und zu Beginn ist er wahrlich kein angenehmer Zeitgenosse. Kaum Steigspuren, sehr wenige Steinmänner, dafür eine Menge an Totholz, Gestrüpp und Wiesen. Erst kurz vor dem Steigbuch wird es interessanter. Hier wartet auch die einzige Stelle im III. Schwierigkeitsgrad auf uns. Moritz ist zu erbost, um sie wahrzunehmen, ich wohl zu müde.  Beim Steigbuch rasten wir. Wir sind dem Zeitplan schon über zwei Stunden voraus.

Dann geht die Sonne endlich auf und beleuchtet die umliegenden Berggipfel. Wir sind dem Südgrat schon fast wieder entflohen. Es gilt nur noch den geeigneten Weg durch die Latschen zu finden. Wir befinden uns kurzzeitig am Zenit unserer Kräfte. Wer uns hier sieht, würde uns sofort einliefern lassen. Nicht ins Krankenhaus, sondern in die Nervenheilanstalt. Zwei keuchende, hustende, unbelehrbare Choleriker mitten in den Bergkiefern. Was für ein Anblick!

Im oberen Abschnitt des Südgrats

Dann endlich der Felsen, auf dem mit roter Farbe “S-Grat” geschrieben steht. Der Ausstieg! Nur noch kurz durch eine Latschengasse und die Hand ist voll. Voller Schweiß und Dreck, aber auch die Anstiege müssen ab jetzt mit zwei Händen gezählt werden. Es ist 07:38 Uhr.

 

The Final Countdown

Auf der Gmundner Hütte begrüßt uns neben Hans ein weiteres freundliches Gesicht. Hüttenwirt Gerald ist mittlerweile aufgestiegen und serviert uns mit einer Leberknödelsuppe auch gleich das Frühstück. Der erste Kaffee erfrischt Geist und Körper. Wir pausieren beinahe eine Stunde, bevor wir entscheiden nicht über die Grüne Gasse zum Hochkampsteig abzusteigen, sondern über das Nordwandband. Hans begleitet uns und so wird daraus wieder eine kurzweilige Angelegenheit. Die unangenehmste Stelle im Nordwandband (II) wird durch ein Seil entschärft, das man hier auch unbedingt braucht. Nicht wegen der Schwierigkeit, sondern wegen der vielen Steine, dem Matsch und dem Moos, das auf den Begeher heruntersaust. Es gilt sich festzuklammern um nicht am Fuße der Nordwand zu landen.

Im Nordwandband um kurz vor 09:00 Uhr

Das “Kamp”, wie es von den Traunstein-Füchsen genannt wird, ist anfangs recht unangenehm abzusteigen. Einige Stellen im oberen ersten Schwierigkeitsgrad erlauben kein allzu hohes Tempo. Erst auf den Waldsteiglein darf wieder der Turbo gezündet werden und so stehen wir nach  55 Minuten auf der Forststraße, die zum Laudachsee führt. Die Zehen in den engen Berglaufschuhen schmerzen schon, doch sonst sind noch keine dramatischen Zustandsverschlechterungen zu bemerken. Nun folgt eine mentale Herausforderung: alles wieder hoch, was man vor wenigen Minuten abgestiegen ist. Das halbe Dutzend macht nämlich das Hochkamp voll.

Gähnende Leere bestimmt die nächsten Minuten. Leere im Kopf, Wortkargheit und bald auch leere Trinkflaschen. Auf 1.300 Metern rasten wir, legen uns ins Gras, blicken ins Alpenvorland. “Hast du dich eigentlich gefragt, was wir hier machen” frage ich. “Nein, du?” “Auch nicht” Schallendes Gelächter ertönt im Norden des Traunsteins. Es ist immer noch nicht langweilig geworden. Der Monotonie einer 24-Stunden-Begehung haben wir durch sieben verschiedene Routen vorgebeugt. Wir sammeln uns wieder und erreichen über ein schmales ausgesetztes Band den Übergang zum Ostgrat. “Hey, Grüne Gasse, alter Freund. Lang nicht mehr gesehen” denke ich. Vor etwa 7 Stunden sind wir das letzte Mal hier durch. Verrückt, wenn man sich das so durch den Kopf gehen lässt. Die Bedingungen sind weiterhin gut und es bleibt sogar Zeit für ein Foto.

Kurz vor dem Ausstieg der Grünen Gasse um etwa 11:00 Uhr

Um 11:08 stehen wir zum sechsten Mal am Gipfel. Nun tut sich schon einiges. “Seid’s ihr die zwei Narrischen” fragt ein älterer Herr. Wenige Meter unterhalb werden wir mit “Hey, die Narrischen” begrüßt. Es folgen “Seid’s ihr die Zwei?” und “Mei liaba, es habt’s an Klopfer!” 


In der Gmundner Hütte ertönt “The Final Countdown”. Max impft uns ein weiteres Mal Motivation ein. Ein letztes Mal. Das wirklich allerletzte Mal. Wie schön das klingt. Wir zweifeln nicht mehr. Wir wissen, dass wir es schaffen werden.  Es folgt ACDC’s “Highway to hell”. “Passt doch auch irgendwie” lacht Max.

 

We’re leaving ground
Will things ever be the same again?
It’s the final countdown…!

 

Der Mairalmsteig ist mitterweile kein Unbekannter mehr und doch ist er bei Tageslicht ganz anders. Obwohl wir erneut nur 36 Minuten nach unten brauchen, kommt es mir vor als würde sich die Zeit gegen uns verschworen haben. Auch die Sonne brennt mittlerweile vom Himmel. Unten angekommen, lehne ich mich an einen Baum. Mir fallen die Augen zu und ich träume von den drei B’s. Bier, Bratl, Bett. Ich öffne sie wieder, registriere, dass ich beim Kaisertisch an der Lainaustraße sitze und freue mich trotzdem. Nur noch 900 Höhenmeter und wir dürfen im Glück baden. Wir haben unser Projekt des Jahres erfolgreich abgeschlossen und dabei soviel Freude gehabt. Der folgende Aufstieg ist trotz der immensen Belastung ein Genuss. Viele bekannte Gesichter begegnen uns, wünschen uns Glück, unterstützen uns mental, geben uns Kraft auch noch die letzten Höhenmeter abzuspulen. Und zwischendurch sind wir natürlich auch wieder “die zwei Narrischen”.  Im oberen Bereich werden wir teilweise sogar angefeuert. “Der Wirt hat euch schon an Schnaps hergricht, soll ich ausrichten” sagt eine ältere Frau. Ja, Gerald und sein Team waren eine wirklich große Hilfe.

Wir steigen aus, sind am Plateau angelangt. Nur noch die letzten 100 Höhenmeter zum Gipfel. Das Ziel einer langen Reise. Eine Reise, die trotz lokaler Monotonie durch verschiedene Regionen führte. Auch durch verschiedene Stimmungen, Gemütslagen, Klimazonen. Durch Tag und durch Nacht. In den Koffer wurden lediglich Wille, Begeisterung und Freundschaft gepackt. Er hat es zu unserem Glück auch an den Zielflughafen geschafft.

Ich war mir sicher, dass mir bei einem Erfolg die Tränen kommen. Doch es passiert nichts. Ich fühle nur eine unendliche Dankbarkeit diese letzten Meter gesund und munter absolvieren zu können. Kurz vor dem Gipfel bemerken wir, dass wir erwartet werden. Dani, Christoph und Hans fotografieren uns, feuern uns an, beglückwünschen uns. Es ist geschafft. Um 14:28 Uhr, 21 Stunden und 28 Minuten nach dem letzten “High-Five” klatschen wir erneut ein. Kein Wettkampferfolg, kein Rekord dieser Welt kann diese ganz persönliche Geschichte übertrumpfen. Eine Last fällt von den Schultern, eine Welle der Euphorie schwappt durch den ausgelaugten Körper. Es ist vollbracht. Es sind Momente, die man nie vergessen wird. Ein ganzes Leben lang werde ich mich daran erinnern. Für manche mag es eine sinnlose Zeitverschwendung sein, für uns die wohl schönste Sache der Welt. Am Anfang war die wirre Idee. Am Ende die schier unendliche Freude nach der Umsetzung. Wir legen uns ins Gras, blicken hinab zum Traunsee. Es ist vorbei.

Die letzten Meter

Erfahrung ist eine teure Schule, aber Narren wollen anderswo nicht lernen.

– Benjamin Franklin….
…zu den 24 Stunden am Traunstein, wäre er nicht vor 225 Jahren gestorben
Nach 21 Stunden und 28 Minuten zum siebenten Mal am Traunstein

Eine Stunde lang bleiben wir am Gipfel liegen und entledigen uns aller Anspannung. Die Gedanken ganz bei dem Irrsinn, dem wir gerade entstiegen sind. Wir sind überglücklich. Gemeinsam haben wir uns einen Traum erfüllt. Seite an Seite das Nutzlose erobert. So hell wie die Sonne strahlt, so hell strahlen auch wir. Hans als Obergans voraus, schlendern wir im Gänsemarsch zurück zur Gmundnerhütte, wo wir von unseren Freunden bereits mit Bier und Schnaps erwartet werden. Gerald und Max gratulieren uns und erheben die Gläser. Wir sind noch nicht vollständig in der Realität angekommen.

Hüttenfreuden
Danke, Freunde!

Während sich Dani und Christoph verabschieden, wechseln wir ins Innere der Hütte, wo die drei Gmundner Stadtmusikanten für eine wunderbare Stimmung sorgen. Auch Arik Brauer’s “Köpferl in Sand” legen wir für uns persönlich aus. Heute gilt hinter meiner, vorder meiner, links, rechts nichts. Heute zählt nur das hier und jetzt. Trotz akuter Müdigkeit verweilen wir bis 23.00 Uhr, bevor wir in ein wahres Koma fallen. Der Schlaf der Gerechten, möge man meinen. Kurz vor Sonnenaufgang wache ich auf, als hätte er ein weiteres Mal nach mir gerufen. Beim Aufstehen komme ich mir vor, als würde ich mich gerade vom Bett im Altersheim erheben, um die Andacht nicht zu verpassen. Die Knochen knirschen und die Stiegen hinab zum Ausgang der Hütte werden zur Herausforderung. Ein paar Meter später ist der Spuk schon wieder vorbei und Hans und ich finden uns bei einem prächtigen Sonnenaufgang am Gipfel wieder. Und ich erwische mich, beim Entwickeln eines Gefühls, das ich nicht unbedingt erwartet hätte: Wehmut. Wehmut, das alles vorbei ist.

Verschlafen aber glücklich 
Die Sonne geht auf

Nach diesem einmaligen Naturschauspiel lassen wir uns beim Frühstück viel Zeit, legen uns noch auf den Gupf überhalb der Gmundner Hütte ins Gras und steigen erst kurz vor Mittag wieder ins Tal ab. Viele Menschen begegnen uns. Sie alle wollen auf den Traunstein. Sie schwitzen, sie kämpfen, sie frohlocken- wie wir. Kurz bevor dir den Kaisertisch erreichen, begegnet uns noch ein Herr älteren Semesters. Er bleibt stehen, blickt uns ungläubig an und fragt: “Seid’s ihr die zwei Narrischen?” Ja, das sind wir.

Mehr narrische Fotos findet ihr im nachfolgenden Fotoalbum.
Ein riesiges DANKESCHÖN an Hans, der uns immer unterstützt hat! Danke an Dani, Christoph, Philipp und Lukas für’s Vorbeischauen! Danke an Max, Gerald und Pesef für die Bewirtung! Danke an alle, die uns angefeuert und motiviert haben!

Für Detailkönige und Zeitfüchse, für Streckenkenner und Interessierte noch einmal die Abfolge:



Start um 17.00 Uhr beim Gasthof Hoisn am Traunsee-Ostufer (428 Meter)

1. Zierlersteig (II), unmarkierter Felssteig auf der Nordseite des Traunsteins, führt in leichter Kletterei durch die Zierlerinne und mündet kurz vor dem Plateau in den Hernlersteig.
Zeit: 1 Stunde und 34 Minuten, Ankunft am Gipfel: 18:34 Uhr
Abstieg über den Hernlersteig in 38 Minuten.

2. Hernlersteig (A/B), markierter, seilversicherter Normalweg
Zeit : 1 Stunde und 38 Minuten, Ankunft am Gipfel: 21:20 Uhr
Abstieg über den Mairalmsteig in 34 Minuten

3. Naturfreundesteig (A/B), markierter, seilversicherter Normalweg
Zeit: 1 Stunde und 44 Minuten, Ankunft am Gipfel: 00:43 Uhr
Abstieg über den Mairalmsteig in 36 Minuten

4. Ostgrat (II+), unmarkierter Anstieg von der Hohen Scharte aus, führt in leichter Kletterei über teils sehr ausgesetzte Felsgrate und die Grüne Gasse direkt zum Gipfel
Zeit: 1 Stunde und 32 Minuten, Ankunft am Gipfel: 03:53 Uhr
Abstieg über den Mairalmsteig in 36 Minuten

5. Südgrat (II-III), unmarkierter Anstieg knapp unterhalb der Mairalm, führt in mäßig schwerer Kletterei über Schrofen, teils ausgesetzte Grate und durch einen Latschentunnel zum Gipfel. (Meist II, eine Stelle III)
Zeit: 2 Stunden und 5 Minuten, Ankunft am Gipfel: 07:38 Uhr
Abstieg über den Zierlersteig, das Nordwandband (eine Stelle II) und den Hochkampsteig (I+) in 55 Minuten

6. Hochkampsteig (I+), unmarkierter Anstieg kurz vor dem Laudachsee, führt über leichte Kletterstellen (I+) auf den Ostgrat und durch die Grüne Gasse (II) zum Gipfel.
Zeit: 1 Stunde und 30 Minuten, Ankunft am Gipfel: 11:08 Uhr
Abstieg über den Mairalmsteig in 36 Minuten

7. Mairalmsteig (A), markierter, seilversicherter Normalweg
Zeit: 1 Stunde und 38 Minuten, Ankunft am Gipfel : 14:28 Uhr