1.200 Höhenmeter, 13 Kilometer Wegstrecke

Der steile Zahn von Hinterstoder- eine Leidensgeschichte

Von Gabriel Egger



“Da muss es doch irgendwo durchgehen, das gibt es doch nicht”. Die Füße sind zerkratzt, der Latschengeruch überdeckt die gewöhnungsbedürftige Mischung aus Schweiß und Anspannung. “Da geht’s auch nicht. Wieder nur Gestrüpp”. Ein Blick auf die Uhr lässt die Ernüchterung schon beinahe Realität werden. “Probieren wir’s noch einmal da oben”. Eine kurze Klettereinlage, ein hoffnungsvoller Blick, grenzenlose Enttäuschung. Die Sonne verabschiedet sich mit den letzten Strahlen, der Herbst hat ihr die Wärme geraubt. Uns Kindern der Berge wurde der Schlecker weggenommen. Ein Schlecker, der den süßen Geschmack des Privilegs hatte. Nicht einmal ein Halm ist geblieben, an den wir uns klammern konnten. Der Ostrawitz wollte heute nicht. Das müssen wir akzeptieren. Gerade rechtzeitig erreichen wir an jenem Oktoberabend den Parkplatz Polsterlucke. Stirnlampen hatten wir keine dabei. “Sind ja eh gleich oben” posaunten Matthias und ich heraus. Das Hinterstoderer Horn stieß nicht ins gleiche Horn. Die verwinkelten Wege, die steilen Schrofen und das unübersichtliche Gelände forderten Tribut. Auf 1.650 Metern war mitten in den Bergkiefern Schluss. Gefehlt hatten nicht einmal 200 Meter. “Wir kommen wieder”. Der Ostrawitz lächelte in der Abenddämmerung über diese Kampfansage…

Das Horn von Hinterstoder, Foto: Martin Lang

…und versuchte nur wenige Wochen später , mit Hilfe des weinenden Himmels einen erneuten Versuch ins Wasser fallen zu lassen. Mit Erfolg. Der Regen schwemmte den Weg förmlich davon und nach strapaziösen Minuten der äußerst boshaften Flucherei, zogen wir den Vorderstoderer Tamberg (1.516m) vor. Wieder nichts zu holen.

Nicht so schlimm, denn schließlich sind ja alle guten Dinge drei. Oder? Nach meiner Priel-Doppelbesteigung (Hinterstoder-Priel-Grünau-Priel-Hinterstoder) und einer Nacht am Prielschutzhaus, unter den unterhaltsamen Anekdoten von Harry Höll, sollte der nächste Tag eigentlich der Gratüberschreitung vom Temelberg zum Feuertalberg gehören. Wäre da nicht dieses Horn, das unvermindert nach mir schreit. Vom Prielschutzhaus wirkt es fast handzahm, als könne man es bändigen. Es muss sein. Ein letztes Mal. Ich schwöre es. Ein allerletztes Mal.

Dieses Mal ist es Hans, der mit mir vom Weg abkommt. Wir stehen plötzlich vor der Wand des Löckenkogels. Es ist unerträglich heiß und unsere Wasservorräte sind aufgebraucht. Viel zu schwierig müssen wir nun Steilhänge queren. Abklettern gehört zur Tagesordnung. Irgendwann taucht plötzlich die Fuchsgabelhütte auf. Völlig geschafft, leer und ausgetrocknet lassen wir uns nieder. “Ist das Pech, oder bin ich einfach nur blöd?” frage ich meinen Mitstreiter. “Ich versteh nicht, was du da überhaupt noch machst. Ich komm nicht wieder”. Er kam wieder.

Der vierte Versuch 

Es ist ein wunderschöner Vormittag mit einem Wetter, das nicht besser sein kann. Zeit, endlich das letzte Problem der Alpen zu lösen. Der Kalkalpen. Naja gut, des Toten Gebirges. Okay, in der Linie von der Polsterlucke bis zum Prielschutzhaus. Alles klar, mein letztes Problem.

Wir folgen dem Wanderweg zum Prielschutzhaus, bis sich die erste  Forststraße nach links ausbreitet. Hier könnte man bei einem Postkasten auch noch den Abschiedsbrief abgeben. Wir folgen der Forststraße, mittlerweile kenne ich sie ja ganz gut, und zweigen nach etwa 1,1 Kilometer links in den Wald ein. Hier leiten Steinmänner den ambitionierten Begeher noch in die richtige Richtung. Wir erreichen die ramponierte Wildabsperrung. Ein deutlich erkennbarer Pfad hat bisher gute Hilfe geleistet,aber ab jetzt gilt es zum wiederholten Male Spürsinn zu beweisen. Man hat sich hier rechts zu halten und über Laub, Schrofen und Erde weiter nach oben zu steigen.

Vereinzelt trifft man auf Steinmännern, denen man teils länger, teils nur kurz folgen kann. Hat man sich hier noch nicht verlaufen, ist man auf einem guten Weg die Fuchsgabelhütte zu erreichen und somit den unangenehmsten Wegabschnitt erfolgreich zu meistern. Wir kommen überraschend gut voran und können zufrieden von der alten Jagdhütte in Richtung Prielkette lugen. Der Kleine Priel und die Angelmauer glänzen im Sonnenlicht. Erinnerungen an die Priel-Überschreitung werden wach. Schön haben wir’s.

Die Fuchsgabelhütte
Schöne Ausblicke

Hier führen wieder deutliche Steigspuren nach oben, denen man getrost folgen darf. Die Anspannung ist riesig, denn nach einem vierten Scheitern wäre die Stimmung schon unter dem Kellergewölbe. Aber wir kommen durch und können dem Pfad auch weiterhin bequem folgen. Immer mehr Steinmänner offenbaren sich und nach einer kleinen Grasrampe tauchen sogar rote Punkte auf. Euphorie! Alpinistisch völlig unbedeutend, ist es für mich ein wichtiger Schritt. Eine Aufarbeitung, ein Zurechtrücken der Tatsachen, ein zukünftiger Appell an meinen Sturschädel: “Siehst du, aufgeben is nich'”

Auf 1.500 Metern angelangt werden die steilen Schrofenwege mit ebenso weglosen Quergängen garniert. Ein altes Stahlseil erinnert an die Versuche, den Ostrawitz zugänglich zu machen. Er bleibt ein Einsiedler unter den beliebten Karstbergen. Der Wächter vor dem Tor zum Prielspielplatz. Und, alle Achtung, er macht das formidabel.

Quergang auf 1.500 Metern
Beim dritten Versuch noch hier gescheitert, geht es am Löckenkogel vorbei

Die lange Querung im ständigen Auf-und Ab ist zwar unschwierig, dennoch sollte man keinen falschen Schritt setzen. Sonst liegt man schnell beim Nickerbauern unten. Und gleichzeitig mit dem mentalen Absichern vor dem Fall, sollte man dem Weg nicht zu viel Vertrauen schenken, Denn, der Schein am Ostrawitz, er trügt. Folgt man den Steigspuren zu lange, führen sie auf einen abschüssigen, grasbewachsenen Grat, der in weiterer Folge ins Nichts führt. Kurz nach den Versicherungen nämlich, muss man in eine unscheinbare Rinne einsteigen, Bei genauerem Hinsehen kann man zahlreiche Steinmänner erspähen und schon bald ist der Weg auch sporadisch mit rot-weiß-roten Absperrbändern markiert.

Typisches Rinnengelände

Nun wird es erst richtig mühsam. In der Manier eines Entdeckers muss man sich dursch Latschen, Erde und kleine Kletterstellen schlagen, Den Weg kann man vorerst nicht verlieren, zu schmal zeigt sich die Rinne. Erst kurz vor dem vermeintlichen Gipfel, auf etwa 1.750 Metern, muss man sein spielerisches Glück auf die Probe stellen. Wer Pech in der Liebe hat, ist klar im Vorteil. Eine gekonnte Linksquerung bringt aber auch glückliche Beziehungen unversehrt auf den nur ganz selten besuchten Gipfel. Einige letzte felsige Stellen (I) sind zu überwinden und dann ist man schon auf dem kurzen Grat angelangt, der zum höchsten Punkt leitet.

Die Spitzmauer mit ihrer gewaltigen Ostwand ist der erste Blickfang und langsam zeigt sich, dass der Ostrawitz ein Aussichtsberg erster Güte ist. Die prominten Gipfel des Toten Gebirges mitsamt ihren Weglein sind zu überblicken. Der Stoderkamm  ist auch in greifbarer Nähe und irgendwie glaubt man von hier bald beim Bier am Prielschutzhaus zu sitzen. Nach drei fehlgeschlagenen Versuchen lege ich mich ins Gras und strecke die Arme gen Himmel. Ich fühle mich wie ein alter Alpinist aus England, der bei seinen Expeditionen zu einem noch unbekannten Berg immer wieder umkehren musste. Allerdings bin ich nur ein oberösterreichischer Bergwicht, der mit einer brisanten Mischung aus Pech und Unvermögen nicht zum Erfolg kam. Schön, dass es die Fantasie anders sieht.

Der Stoderkamm beim Ausstieg aus der Rinne
Gipfel Ostrawitz (1.823m)

Eine halbe Ewigkeit in der prallen Sonne vergeht, bevor wir uns entschließen wieder abzusteigen. Der Abstieg muss nicht unbedingt viel schneller als der Aufstieg sein, doch mit der richtigen Wegfindung stehen wir nach eineinhalb Stunden wieder auf der Forststraße.

Ein letzter Blick
Und der Blick zurück

Wer also den Ostrawitz besteigen will, der braucht zähe Nerven, Idealismus und ein klein wenig Glück. Doch, was der Gipfel bietet, das entschädigt für die Mühen. Der Ausklang in der Hinterstoderer Dorfstube ist genauso obligatorisch, wie gut. Nur, ob ich jemals wieder diesen steilen Zahn ersteige, das bleibt mehr als fraglich.

Wenn ihr euch fragt, wo denn die Bilder und der GPS-Track sind. Voila: