Dieses ständige Warten. Schon auf diesen Tag habe ich so lange gewartet. Eine Woche, zwei Wochen, vielleicht sogar einen Monat lang. Ich habe sogar darauf gewartet, dass ich warten darf. In der langen Schlange vor der Eishalle in Cortina D’Ampezzo. Gemeinsam mit 1599 Läufern, die ihren Namen für eine Nacht und zumindest einen Vormittag in eine Nummer tauschen. Darf ich mich vorstellen? 594.
So habe ich mir das zumindest ausgemalt, auf  den Bildern, die seit Wochen in meinem Kopf entstehen. Aber da war (noch) niemand. Nicht einmal kühl war es dort.  Den einsamen Spaziergang durch den langen Gang mit den beschlagenen Fensterscheiben möchte ich nicht als Zeichen verstehen. Nein, morgen wird das anders. 121 Kilometer Spaß, 5800 Höhenmeter Klarheit im Kopf.

Startnummernausgabe in der Eishalle von Cortina D’Ampezzo

Jetzt, eingewickelt in das dünne italienische Leintuch, warte ich schon wieder. Darauf, dass die Sonne nicht mehr die bleichen Wandfluchten der Tofana di Mezzo erhellt. Darauf, dass sie endlich untergeht und mir die Augen doch noch zufallen. Nur kurz schlummern und vom Zieleinlauf träumen, das würde mir schon reichen. Mir und der Nervosität, die mich innerlich auffrisst. 16 Uhr. Sieben Stunden bis zum Start. Warten bedeutet Stillstand- und kann trotzdem pausenlos sein.

Schnell im Stau

Langes Shirt, kurze Hose? Lange Hose, kurzes Shirt? Ich weiß es einfach nicht. Wie auch? Mein erster Hunderter. Früher habe ich das über das Taschengeld gesagt, gestrahlt und damit das Panini-Album vollbekommen. Jetzt sind es die Laufkilometer. Was ist aus dir geworden, Gabriel?

Die Luft ist kalt, als ich mich endlich für eine Garderobe entschieden habe und damit über die Türschwelle des Hotels trete, als wär’ das mein großer Auftritt und nicht die knapp 20 Stunden, die danach folgen. Die Nacht soll noch kühler werden. Temperaturen um den Gefrierpunkt, sternenklar. Soll ich mich darüber freuen? 22 Uhr. Eine Stunde bis zum Start.Alles ist auf den Beinen. Junge Wilde, alte Hasen, ehrgeizige Siegertypen und gemütliche Spazierer, die mehr am Bauch als auf dem Rücken mit sich tragen.  Der rote Bogen mit dem großen weißen Schriftzug ist nur mehr wenige Meter entfernt:  “FINISH”. Wie schön ihn zu sehen, wie unangenehm ihn gleich wieder verlassen zu müssen.

Kurz vor dem Start des Lavaredo Ultra Trail 

Der Zeitplan steht. Ausgearbeitet haben ihn meine Freundin und ihre Eltern, damit sie am Morgen rechtzeitig zu den Labestellen kommen. Sollte ich ihn nicht einhalten, bin ich mir nicht sicher, ob ich mich mehr vor den Konsequenzen eines zu schnellen Beginns, oder vor den bösen Blicken der mitgereisten “Fans” fürchte.

Dann ertönt sie. Die Hymne des Lavaredo Ultra Trails. The Ecstasy of Gold, Ennio Morricone. Acht Grad Außentemperatur, aber meine Hände schwitzen. “So many runners, so many heroes!” schreit die euphorische Stimme aus dem Lautsprecher, bevor sie rückwärts zählt. Cincque. Hab’ ich auch wirklich alles eingepackt, was zwischen Kasten, Bett und Balkon verstreut war?  Quattro. Wie schnell soll ich starten? Tre. Komm ich überhaupt vom Fleck? Soviele Leute. Due. Kann er mit dem Zählen nicht wieder von vorne anfangen? Uno. So ein Urlaub in den Dolomiten wäre ja auch nicht verkehrt. Ich könnte doch einfach wieder ins Hotel und….GOOOOOO! 

Eher Stop and Go. Ich stehe immer noch zwischen dem Heiligen Philippus und dem Heiligen Jakobus. Hinten anstellen, vorne aufräumen. 23.04 Uhr. Jetzt kann ich die Basilika im Zentrum von Cortina endlich verlassen. Der tosende Applaus lässt meine Beine glauben, sie seien schon vor dem Zieleinlauf. Es kribbelt überall.

Großer Andrang beim Start im Zentrum von Cortina 

Auf der breiten Asphaltstraße geht es leicht ansteigend hinaus aus dem Ort nach Cadin. Das sind sie jetzt also, die ersten Meter eines Ultra-Laufes. Eigentlich ja ganz entspannend. Nicht einmal die Stirnlampe brauche ich, ich schwimme ganz einfach in den Wellen des Lichtermeeres mit.

Der Asphalt beginnt langsam in Schotter überzugehen, der Weg wird steiler. Jetzt kann ich sie zum ersten Mal hören. Ganz deutlich, so als sitze dieser kleine Teufel genau in meinem Ohr. “Lauf schneller”, sagt die Stimme. “Lauf dich frei. Mach schon. Du verlierst wichtige Zeit. “Was soll der Schwachsinn?” will ich eigentlich antworten, aber was würde der Pole neben mir dann denken? Drei Kilometer und der spricht schon mit sich selbst?

Ich laufe, wo die anderen gehen, beschleunige dort, wo andere das Tempo herausnehmen. Dann stehe ich. Im Stau vor dem ersten langen Anstieg. Und ich stehe wirklich. Eine Minute. Zwei, bald sind es drei. Gefühlt acht Stunden vergehen, bevor sich der Pulk auflöst. Und natürlich versuche ich, das wieder aufzuholen. Nach fünf Kilometern muss das ja auch wirklich schon sein. Ich überhole. Ein schwedisches Pärchen, das nicht nur ein Liebespaar, sondern auch gleich angezogen ist. Einen schmächtigen Mann aus Hongkong, der die Wintergarderobe ausführt. Das Gelände ist einfach, Forststraßen, wenige Wurzeln. Auch beim Downhill (das deutsche Wort wäre wohl Hinunterlaufen, aber das hört sich ja langweiliger an, als es ist) klappt alles hervorragend.

Die Nacht ist dunkel. Sehr überraschend. Aber hier, zwischen den dicken Tannen, die den Mond abschirmen, fühlt es sich wirklich dunkel an. 01:28 Uhr. Ich erreiche nach 18 Kilometern und 860 Höhenmetern die erste Verpflegungsstation. Das H vor Ospitale brauche ich nicht. Cola, italienische Wafferl, weiter in die Dunkelheit. Die Luft ist so kalt, dass sich meine Lunge beim Anstieg Richtung Passo Tre Croci lautstark beschwert. Ich denke nach, was meine Freunde wohl gerade machen. Bier vor der Bettschwere, oder Anstieg zum Sonnenaufgang?

Miserabel, Misurina

Bis auf die scharfen, wadenschindenden Anstiege, bin ich fast alles durchgelaufen. Noch fühlt es sich richtig an und die Stimme im Ohr singt Loblieber auf mich. Bei der zweiten großen Verpflegungsstation habe ich bereits mehr als 300 Plätze gut gemacht. 03:22 Uhr. 34 Kilometer und 1540 Höhenmeter in den Beinen, 87 Kilometer und 4260 Höhenmeter vor ihnen. Federavecchia heißt der Pausenort, der mit lauter Musik die stille der Nacht durchbricht. Ich höre den Reggae-Dancehall-Melodien knapp fünf Minuten zu, bis der Rhythmus meinen Körper erreicht und ich mit dem Popo Richtung Misurina schwinge. Das Schlimmste ist bald überstanden, denke ich, als sich zwischen den Dolomiten-Zacken langsam das Morgenrot ankündigt.Der Marathon ist gelaufen, als ich beim Lago di Misurina ankomme, braun vom Dreck, aber ohne Beschwerden. Es ist hell geworden. Noch nicht so hell, dass ich den Tag ankündigen könnte, aber zumindest so hell, dass die Stirnlampe im Rucksack verschwindet. Mehr als 600 Höhenmeter Anstieg zum Rifugio Auronzo liegen nun vor uns. Vor mir und der Gruppe, mit den langhaarigen Italienern, der ich mich angeschlossen habe.

Der Schwächste der Gruppe soll vorauslaufen, heißt es immer. Aber auf dem steilen Anstieg verliere ich langsam den Anschluss. Mein Magen hätte gerne mehr, als nur italienische Waffeln zu verdauen. Er dreht sich. Nach links, nach rechts und schließlich im Kreis. Bevor ich mich entschließen kann die Gedanken vom eiskalten Wind zum wärmenden Empfang bei den Drei Zinnen zu lenken, meldet sich die Stimme zurück. Diesmal ist sie tiefer, aber viel sanftmütiger: “Lass es doch einfach. Du musst dir nichts beweisen. Schlaf dich aus. Genieß den Ausblick. Sei zufrieden.” . Ich ignoriere sie. Blödes Engelchen.

Anstieg zum Rifugio Auronzo, Kilometer 48 

Die Serpentinen schlängeln sich ins Nichts. Immer wenn ich glaube, die Drei Zinnen, die von hier aus wie zwei unförmige Felsbrocken aussehen, erreichen zu können, rutschen sie wieder ein Stück weg. Ob das die Plattentektonik ist? Die Temperatur auf 2300 Metern Seehöhe fällt genauso schnell, wie meine Motivation. Allgemeines Bibbern und Zittern im Starterfeld. Dann, endlich, erblicke ich das weiße Zelt am Horizont. Nach 6 Stunden und 59 Minuten erreiche ich die Labestelle beim Rifugio Auronzo- und meine Mitreisenden. Die Wärme kehrt zurück, zumindest rund ums Herz.

Das “Labezelt” beim Rifugio Auronzo. 49,3km und 2743hm sind gelaufen

Wenn ich nur etwas essen könnte. Die heiße Suppe quält sich durch die Speiseröhre, auch das Weißbrot will lieber auf seinem Platz an dem großen Tisch mit den getrockneten Früchten bleiben. Ich setze mich hin, beobachte das rege Treiben, sehe aber auch, dass es für viele nicht mehr läuft. Statt dem dünnen Leintuch am Abend, gibt es für sie die Rettungsdecke.

Heiße Suppe, dicke Jacke, guter Zuspruch

Irgendwo zwischen den bunten Stirnbändern und den wärmenden Daunenjacken, glaube ich ein bekanntes Gesicht zu erkennen. 50 Kilometer muss man also durch die Dolomiten laufen, um einen Gmundner zu treffen. Das würde wohl leichter gehen. Gregor, der wenige Minuten vor mir das Festschmauszelt erreicht hatte, ist schon bereit zum Ablauf. “Du holst mich eh ein”, sagt er. Ich werde ihn erst in 10 Stunden wieder sehen.

Langsam und widerwillig geht es weiter 

Mehr als zwanzig Minuten vergehen, bis ich mein erwärmtes Sitzfleisch wieder in der Morgenluft abkühle. “Wir sehen uns, hopp hopp”, ruft mir mein Schwiegervater (in spe) nach. Ich muss lächeln. Auch, weil vor mir endlich die Drei Zinnen in ihrer vollen Pracht auftauchen. Irgendwann werde ich sie erklettern. Aber jetzt will ich nur vorbei an ihnen.

 

Der Kampf beginnt wieder 

Stehenbleiben muss ich trotzdem kurz. Zu schön sind diese fantastischen Drei. Jede Zinne wäre ein eigenes Gemälde wert. Dann geht es zum längsten Abstieg des Tages. Mehr als 1000 Höhenmeter hinab nach Cimabanche! Dafür brauche ich einen Antreiber. Musik an, Welt aus. Okay, nächstes Lied. Was zum Teufel macht Andreas Gabalier auf meinem MP3-Player?

Ein Mann zwischen Mut und Verzweiflung 

Das taufrische Grün des Tales weckt meine Geister wieder. Sie spuken durch die Dolomiten, lassen sich nicht abhängen, genauso wie die Stimme, die sich in mein Ohr gesetzt hat. “Jetzt geht’s los! Jetzt geht’s los!” singt sie. “Hey, wir sind nicht im Fußballstadion und du hältst jetzt endlich mal die Klappe!”

Der Weg zieht sich. So lang, wie ein drei Tage alter Kaugummi. Wenn ich jetzt Radio- und Handyempfang hätte, ich würde bei OE3 anrufen und das ganze Land zu meinem Dilemma befragen: “Hallo, hier ist Gabriel aus Linz. Also jetzt gerade bin ich nicht in Linz, sondern irgendwo zwischen den Drei Zinnen und Cimabanche. Vor mir liegt eine ziemlich unangenehme Forststraße. Sechs Kilometer lang. Sie ist aber nicht flach, sondern leicht ansteigend. Einmal mehr, einmal weniger. Soll ich sie durchlaufen, oder soll ich ein bisschen gehen?”

Aber ich habe keinen Empfang. Also mache ich einfach, was mir die beiden Stimmen sagen. “Lauf schneller!”. “Geh langsamer!.” “Lauf jetzt endlich. “Geh mal zwischendurch!” Tolle Hilfe.

09:26 Uhr. Laufend, aber müde und hungrig erreiche die Verpflegungsstation. Soll ich mich freuen, weil ich schon mehr als die Hälfte geschafft habe, oder soll ich weinen, weil ich noch fast die Hälfte vor mir habe? Ich überlege, während ich mir eine ganze Packung “Powergel Shots” in den Mund stecke.

Ein müdes Lächeln beim Erreichen von Cimabanche
Verpflegungsstation Cimabanche. Zufällig ist auch Gregor (grün) wieder mit am Bild 

 

Speicher auffüllen 

Nach dreißigminütiger Nachdenkpause, komme ich zum Entschluss, dass ich mich freuen muss. Alles andere würde nach hinten losgehen- und ich möchte ja vorwärts laufen. Und das gelingt richtig gut. Beim Anstieg Richtung Malga Ra Stua fühle ich mich wie neugeboren. Nur die Nabelschnur fehlt.

“Du kannst das noch gewinnen”, sagt die Stimme in meinem Ohr. Sie wird größenwahnsinnig- und ich mit ihr. Ich laufe den Abschnitt beinahe durch, merke erst beim Downhill, dass ich schon einmal bessere Ideen hatte. Die Schulter schmerzt vom Steckeneinsatz, der Magen beschwert sich über den Mix aus getrockneten Früchten, Olivenöl und Nutella. Trotzdem. 76,5 Kilometer sind geschafft. 3552 Höhenmeter ebenso. In mir reift der Plan unter 20 Stunden zu bleiben. Wenn ich ehrlich bin, war der zu diesem Zeitpunkt schon ausgereift.

Nach 11 Stunden und 17 Minuten in Malga Ra Stua 
Kommunikationsprobleme 
Mmmmmh. Das Salz in der Suppe

20 Kilometer sind es von hier bis zur nächsten Labestelle. 20 Kilometer, in denen ich meine Motivationscrew nicht zu Gesicht bekomme. Und 20 Kilometer, in denen ich viel leiden werde.
Die Kälte ist der unbändigen Kraft der Sonne gewichen und meine schleicht sich langsam davon.
Bergab läuft es gut, auch die flachen Teile sind, abgesehen von dem bösen Wolf, der zwischen meinen Beinen nach den sieben Geißlein sucht, passabel.

Wo selbst das Handy nicht mehr will

Bevor es ins Travenanzes-Tal geht und der giftige Anstieg zum Col dei Bos beginnt, treffe ich auf die Teilnehmer des Cortina-Trails, auf den die Läufer Samstagfrüh in Cortina losgelassen wurden. Wie ein grauer Star ordne ich mich blind in den Schwarm ein und lasse mich mittragen. Wir springen über Steine, steigen durch Flüsse, fliegen beinahe über die Strecke des Lavaredo Ultra Trails. Bis nichts mehr geht, oder: bis ich nur mehr gehe. Vor dem langen Anstieg setzte ich mich ins Gras, trinke aus dem Bächlein und bin einfach nur leer. Jetzt, wo ich sie gar nicht brauche, erklingt die sanftmütige Stimme in meinem Ohr: “Bleib hier einfach lange sitzen. Mach es dir gemütlich. Iss etwas. Und dann schau’ in 20 Minuten noch einmal, wie es dir geht.”

Okay, das mit dem Essen, da hat sie einen Punkt.  Ich packe einen Riegel aus, das Plastik wieder in den Rucksack und beobachte die Läufer, die sich an mir vorbeimühen.“Genau, und jetzt leg’ dich einfach ein bisschen ins Gras”, meldet sich die Stimme wieder. “Nein, das reicht jetzt. Ich muss weiter.”

Mein Körper muss nicht, und er will auch noch nicht. Nur langsam schleppe ich mich in die Gesteinswüste vor dem Col dei Bos hoch. Die Dolomiten haben mein Herz erobert. Ich fühle tiefe Dankbarkeit, sie durchlaufen zu dürfen- und auch noch zu können. Kurz vor 14 Uhr erreiche ich den höchsten Punkt, bevor es endgültig bergab zur Verpflegungsstation geht. Eine lange Forststraße mit einer unbequemen Schotterauflage schlängelt sich dort hinunter. Mein Knie merkt an, dass es jetzt schon mehr als 90 Kilometer in den Knorpeln hat und es dann einmal genug sei. Aber ich muss das Klagen überhören. Während ich mich bei einem überraschenden weiteren Anstieg abmühe, hat der Sieger des Lavaredo Ultra Trails 2018 bereits das Ziel erreicht.

Hayden Hawks gewinnt in 12 Stunden und 16 Minuten 

96,7 Kilometer sind geschafft, als ich beim Rifugio Col Gallina wieder auf meine Motivationscrew treffe. “Ein Stückerl geht’s noch” sagt mein Schwiegervater. Verdammt, stimmt ja. Nur mehr knapp 25 Kilometer. Das wär’ ja gelacht.

Zum Lachen ist mir auf dem Weg zum Passo Giau nicht mehr zumute. Obwohl es nur knapp sieben Kilometer sind, glaube ich zwischendurch, dort nie anzukommen. Die haben sich bestimmt vertan. Das muss viel weiter sein. Erst als meine Uhr bei den gelaufenen Kilometern von zwei auf drei Zahlen umspringt, hebt sich meine Laune wieder. Das ist er jetzt, mein erster Hunderter. Aber die Stimmungsschwankungen gehen weiter. Mein Handy hat früher aufgegeben, als ich. Irgendwo zwischen Kilometer 95 und 104 ist es aus der Brusttasche gesprungen und erholt sich im knöchelhohen Dolomitengras. Marco Giovannini aus Verona wird es wenige Stunden später finden- und es mir wenige Tage später zurück nach Österreich schicken. Mille Grazie! 

Der wunderbare Passo Giau, Kilometer 104,1

17 Kilometer sind es nur noch bis ins Ziel, als ich die Labestelle beim Passo Giau erreiche. Jetzt weiß ich, dass ich es tatsächlich schaffen kann. Aber ich bin auch bereits mehr als 17 Stunden unterwegs, liege hinter dem Zeitplan. “Dann musst du jetzt halt Gas geben”, sagt die raue Stimme in meinem linken Ohr. Sofort wird ihr im rechten Ohr sanftmütig widersprochen: “Genieß es. Damit du es ins Ziel schaffst, musst du einen Gang zurückschalten”. Ach, hört doch auf! Die Entscheidung trifft jemand anderes: Gregor ist zurück! Er hat sich von der Kälte der Nacht erst nach einer Stunde Schlaf erholt und ist am Passo Giau wieder ins Rennen eingestiegen. “Machen wir es gemeinsam fertig”, sagt er. Genau das wollte ich hören.

Nicht mehr weit, dann darf ich endlich glücklich schauen

Wir laufen. Flach, dann bergab, über Schotter, Steine, Wiesen und kurz auch den Berg hinauf. Wie lang geht das denn noch? Ganz am Ende des Hochplateaus ist der letzte Anstieg zu sehen. Der LETZTE Anstieg! Jeder Buchstabe singt eine eigene schöne Melodie. Um 17:29, nach einer Laufzeit von 18 Stunden und 24 Minuten haben wir es geschafft. Wir stehen in 2250 Metern Seehöhe. Ab jetzt geht es nur noch bergab , zurück nach Cortina, wo wir gestern um 23:04 losgelaufen sind.  In einer Nachbetrachtung ist es üblich, dass Gefühle verschwimmen. Unschöne Momente werden ganz okay, schöne Momente werden himmlisch, schlechte Gefühle gehören dazu. Aber an das Gefühl, das ich dort oben hatte, kann ich mich genau erinnern: Ich will jetzt endlich aufhören.

Ob es vielleicht das Richtige war, genau in diesem Moment die 20-Stunden-Grenze anzusprechen, weiß ich nicht. Aber es hat gewirkt. “Weißt du was?”, sagt Gregor und bleibt stehen. Schau ab jetzt nicht mehr auf die Uhr. Wir laufen einfach. So schnell wir können.”  Das Versprechen, das ich ihm gebe, breche ich nach fünfzehn Sekunden.

Das Gefühl, unsterblich zu sein

Beim letzten Verpflegungspunkt am Berg sieht es mit den 19:59:59 nicht gut aus. Das Rifugio Croda da Lago erreichen wir nach 18 Stunden und 45 Minuten. Wir sind müde, die Beine ziehen mich in Richtung der Bierbänke.  Wir müssen uns sputen, aber pausieren wollen wir auch. Nur kurz. Für so ein leckeres Weißbrot mit Olivenöl, das ich nicht mehr riechen kann. 10,2 Kilometer noch, 900 Höhenmeter bergab, 50 bergauf.
17:55 Uhr. Das letzte Mal aufstehen, das letzte Mal loslaufen. “Schau jetzt wirklich nicht mehr auf die Uhr”, sagt Gregor. Diesmal dauert es fast 45 Sekunden, bis ich zum Verräter werde. Dafür dauert es auch genauso lange, bis er mir davonläuft. Wie kann der jetzt noch so schnell sein?
Als ich mich bereits mit einer Zeit über 20 Stunden abfinde, ertönt plötzlich wieder eine Stimme in meinem Ohr. Sie ist anders, viel kräftiger. Ja, es ist ein Chor. Der Teufel und der Engel haben Verstärkung bekommen. “Halte durch”, singen sie zu dritt. “Glaub an dich, du schaffst es”. 
 
Der Schweiß perlt mir von der Stirn direkt in die Augen. Dabei würde ich die jetzt so dringend brauchen, um nicht über die Wurzeln zu stolpern. Egal, einfach weiter. So schnell mich meine müden Beine noch tragen können. “Three Kilometres left” ruft mir die Stimme aus dem Kontrollzelt zu. Ich möchte ihn umarmen, sogar küssen würde ich ihn für diese drei Worte.
“One kilometre”, sagt das kleine italienische Mädchen am Straßenrand. Ich werfe ihr meinen charmantesten Blick zu, der sie offenbar erschrickt,  und donnere über den Asphalt. Der Heilige Phillipus, der Heilige Jakobus, die Kirche von Cortina! Ich sehe sie! Und da ist auch Gregor!
Noch ein letzter kleiner Anstieg, hinauf ins Zentrum, auf den Corso Italia. Wir laufen ihn, die Endorphine spielen verrückt. 18:49, sagt die Uhr. Das geht sich aus! Wir schauen uns an, lachen, fetzen dem rot-weißen-Zielbogen entgegen. “Hö, do isa schon! höre ich aus dem Biergarten nebenan. Jetzt beginnt auch mein Schwiegervater zu laufen, um den Zieleinlauf nicht zu verpassen.
23. Juni, 18:50 Uhr, Cortina d’ Ampezzo. Der letzte Schritt. “Yeah, the austrian guys are here!” tönt es aus dem Lautsprecher. Wir sind angekommen. Nach 121 Kilometern und 5800 Höhenmetern durch die Dolomiten. Nach vielen “Ups” und viel weniger “Downs”. Der wildeste Ritt meines Lebens. Und der schönste.
Nach 19 Stunden und 45 Minuten lege ich mich auf den warmen Asphalt. Jetzt, in diesem Moment, bin ich unsterblich, da bin ich sicher.
Nach 19 Stunden und 45 Minuten im Ziel
Es dauert lange, bis die Euphorie nachlässt. Dann: Schüttelfrost. Der Körper wehrt sich eben auf seine eigene Art. Zwei Bier und eine riesige Pizza, belegt mit allem, was die Italiener zu bieten haben, später, liege ich wieder im Bett. Eingewickelt in das dünne italienische Leintuch. Ich habe es gerade noch geschafft, meine Finisher-Weste auszuziehen, bevor ich in einen komatösen Schlaf falle. Und kurz, bevor sich mein Hirn nach dieser langen Reise durch die Gedankenwelt endlich ausschalten darf, höre ich sie noch einmal. Die drei Stimmen von Lavaredo:  “Gut gemacht.”