85 Kilometer sind es vom stählernen Linz an den durchsichtigen Attersee. 
85 Kilometer sind es von der Erde bis zur Thermosphäre, in der die internationale Weltraumstation ISS schwebt. 
85 Kilometer sind es auch von Maria Alm am Steinernen Meer nach Maria Alm am Steinernen Meer. Vorausgesetzt, man nimmt den Rundweg über die Berge. Wie Gabriel Egger es tat. 


3. Hochkönigman 2017
85 Kilometer, 5000 Höhenmeter





Irgendwann wird es wieder hell. In einer Stunde, vielleicht in zwei. Dann wird es dämmern über dem Salzburger Land. Die zerborstenen Mandlwände unter dem Hochkönig werden kürbisorange leuchten und der Schein der Stirnlampe auf dem nassen Boden endlich erlöschen. Die Dunkelheit hat die Augen müde gemacht, der Geist wehrt sich tapfer gegen ein bisschen Entspannung zwischen Wurzeln, Kies und Schotter. Er ist ja auch der Einzige, der weiß wie lange er sich noch abmühen muss. Bedauerlich für die Füße- aber Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Meistens werden die Zwei dann für ein paar Tage eingesperrt- und oft wegen guter Führung zu schnell wieder in die Freiheit der Berge entlassen.

3 Sterne, weiches Bett, großes Frühstücksbuffet. Wie verlockend das Angebot des Arthurhauses mitten in der Nacht klingt. “Hey Junge, du bist hier zum Laufen, also renn jetzt gefälligst”. “Okay, Meister Wille. Dann halt eine Banane und kurz Hinsetz…”. “Nein”. “Okay, nur eine Banane”.


Aus den Gesprächen mit dem Willen werden nach und nach lautstarke Diskussionen, bis hin zur Androhung von häuslicher Gewalt. Bis wir uns wieder vertragen. Nach 13 Stunden und 56 Minuten.

Trunkene Nachtschwärmer

Im Bett, kurz vor 22 Uhr, im liebevoll eingerichteten Johanneshof in Maria Alm war das noch ganz anders. Kein Hindenken an Willenlosigkeit. Nervös spaziere ich im Appartement auf und ab, krame Sinnlosigkeiten aus dem Rucksack, packe sie wieder ein, fluche und räume sie wieder weg. Keine Ahnung, was ich auf 85 Kilometern wirklich brauche. Eine Regenjacke, sagt der Veranstalter. Hab ich. Erste-Hilfe-Set. Hab ich auch. Haube, Handschuhe, lange Hose, langes Shirt? Hey, es ist Sommer! Das liegt alles im Winter-Kleiderschrank. Und eine Pfeife? Gilt das auch, wenn man selbst eine ist, weil man alles zu Hause liegen gelassen hat? Alex macht aus der Pflicht- eine Leihausrüstung. Obwohl er heuer “nur” die kurze Distanz unter seine Laufschuhe bringt, hat er alles dabei, was ich brauche. Vorbildlich! Zumindest starten darf ich jetzt.
23:52, kurz vor dem Start ins Ungewisse
Schlafen kann ich nicht mehr. Ich höre Musik, schaue in den Nachthimmel, wo der Nebel gerade Katz und Maus mit den Sternen spielt, und versuche mich auf die kommenden 85 Kilometer einzustimmen. Lustig, denke ich. Eigentlich bin ich ja auch wie die ganzen Jungen. Jedes Wochenende einen Kater. Nur sind halt die Muskeln und nicht der Kopf schwer.
 
22:56 Uhr: Meine Freundin begleitet mich zum Race-Briefing. 23:01, Organisator Thomas Bosnjak spricht Deutsch, Kollege Gerald Zhang-Schmidt übersetzt das Reglement auf Englisch. Eine Prise Internationalität weht über den familiär gedeckten Tisch. Ob Gerald “Wossakanista” richtig übersetzt hat?
Puh, ich kann immer noch nicht wirklich glauben, dass da jetzt ein Lauf beginnt, der bis zum Nachmittag dauern wird. Noch ein bisschen mehr als zwanzig Minuten, bis zum Countdown.
So viele Nachtschwärmer hat Maria Alm wohl selten erlebt. Und alle sind sie trunken. Vor Glück, vor Anspannung, vor Freude.

Zehn, ten, neun, nine, acht, eight

Stöcke, oder keine Stöcke? Ich nehm’ sie. Noch fünf Minuten bis zum Start in die nebelverhangene Nacht. Ich geb’ sie doch wieder weg. Die reichen in Dienten auch noch. Bis dahin sind es ja eh nur 56 Kilometer. Ein Schmunzeln mischt sich mit Angst. Wie das aussieht? Ein bisschen wie Batmans Joker.
Der Countdown beginnt. Eine letzte Umarmung für die Freundin, die jetzt endlich schlafen darf und nicht mehr Kindermädchen für den kleinen, nervösen Buben spielen muss.
Auch der Countdown klingt international. Ein bisschen verwirrend, das Zahlenspiel zwischen Englisch und Deutsch. Drei. Three.. Na, wann jetzt?.. Zwei. Two. ..Ich will los!.. Eins. One. Endlich! Los geht’s! Zero! 


DER START:

 

DIE STRECKE:

 

Erste Etappe: Jufen Alm. Nicht ans Ziel denken, sonst rückt es in weite Ferne. Einfach laufen. Über die Forststraße und rein in den tropischen Wald. Die Luft ist durch die Nebelschwaden unangenehm feucht, die Lichter der Stirnlampen verlieren sich darin. Wie ein Vorhang, den man nicht zur Seite schieben kann. Die Markierungen sind großartig, durch den Leuchtspray sind sie schon von Weitem erkennbar. Verlaufen- schwieriger als gedacht. Die Nervosität nimmt ab, die Freude zu.850 Höhenmeter sind geschafft. Jetzt geht es bergab und geradeaus bis zur ersten Labstelle in Hinterthal. Es ist stockfinster und ich bin ganz alleine unterwegs. Obwohl ich der Generation “Horrorfilme sind cool, auch wenn ich danach fünf Wochen nicht schlafen kann” entspringe- fürchte ich mich nicht. Ungewohnt schön ist es, nur mit mir selbst beschäftigt zu sein. Wann war ich das das letzte Mal? Vielleicht beim Lesen. Obwohl, da spiel’ ich meiner Fantasie auch immer mit. Da bin ich dann der Superheld, oder der böse Wolf. Lecker, sieben Geißlein.

Heute bin ich der Verrückte, der an den flimmernden Straßenlampen nach einer Stunde und 32 Minuten bei der Labestation einläuft. Orangen, Kekse, Wasser, weiter geht’s. Irgendwie schön, wenn ein Lauf so lange dauert, dass man sich keinen Stress machen braucht. Hat ja was, dieses “Ultra”.

Ein Keiler und die Sonne

Diese lästige Stirnlampe auf dem Kopf. Kann es bitte endlich hell werden? Mitterbergalm- dunkel. Seit mehr als zwei Stunden habe ich mit niemandem mehr gesprochen. Gut, würde ich normal auch nicht um diese Uhrzeit. Irgendwie läuft heute niemand mein Tempo. Außer der Musik, die mich über rassige Wege, dicke Baumstämme, nasse Wurzeln und muhende Weiden bringt.
Die Nacht nagt an der Motivation. Zumindest an meiner, den anderen scheint das nichts auszumachen. Rene und Thomas machen GoPro-Selfies, ein anderer telefoniert. “Geht scho, wird scho”.
Dann das Arthurhaus. Wie oft bin ich hier schon gestartet, um auf den Gipfel des Hochkönigs zu steigen. Im Frühling, wenn der Schnee noch von den heißen Wänden tropft. Im Sommer, wenn Roman Kurz sein Matrashaus öffnet. Im Herbst, wenn das Tennengebirge goldgelb glänzt und im Winter, wenn der Berg sich unter einer dicken weißen Hülle versteckt.  Heute laufe ich einfach vorbei. Dafür lerne ich einen anderen Gipfel kennen. Den Hochkeil. Wie ein Keiler muss ich auch wirken, bei dem Geschnaufe. Es dämmert bereits, mein Blick steigt hoch zum König. Irgendwie hat er mein Herz gewonnen.
Es dämmert am Hochkeil

Ich halte kurz inne. Noch so ein Punkt, der  “ultra” angenehm ist. Stehenbleiben, zuschauen, mit welcher Farbe die Natur den Himmel anpinselt. Kein Blick auf die Uhr. Okay, zugegeben: ein paar mal geblinselt hab’ ich dann doch. Runter nach Mühlbach! Aua. Stein. Aua. Wurzel. Aua. Nasse Wurzel. Aua. Geht nicht so einfach, wie ich mir das vorgestellt habe. Trotzdem: es ist hell, es ist schön, ich bin noch immer da.

Ein Schneeberg, der nicht kühlt

5 Stunden und 39 Minuten zeigt die Uhr an, als ich von der Labe wieder aufbreche. “Hey, wir sind gleich in Mühlbach”, schreibt meine Freundin, die mit ihren Eltern eine kurze Nacht verbracht hat, um den schwitzenden Schwiegersohn noch mehr Feuer unter dem Hintern zu machen. Zu spät, ich steige schon dem Schneebergkreuz entgegen. “Wartet mir bitte in Dienten”, tippe ich, mit ganz viel Schweiß und Dreck, in die Handytastatur. Ich liege auf dem 20. Platz. Das hat mir ein freundlicher Herr auf der Straße zugerufen. Hat der gezählt? Egal, jetzt ist grad einmal die Hälfte geschafft. 44 Kilometer- Halbzeit. Wie das klingt.
 
“Wie bist denn beinanda?”, fragt die Frau. “Dawei gutl. Schusswaffe”, schreibe ich zurück. Danke, Autokorrektur, jetzt hast du mich zum Verdächtigen gemacht.
Eine Waffe brauche ich nicht, um die 1000 Höhenmeter auf den Schneeberg zu absolvieren. Aber der versprochene Schnee im Namen wär klass. In ist, was drin ist, oder so. Langsam wird es richtig heiß. Ein wunderschöner Tag ist angebrochen.
Am Gipfel des Schneebergs
Kurz vor dem Gipfel lagern einige Wasserkanister. Darauf ein Hinweis für Wanderer, dass es sich hierbei um eine Labestation für einen Extremlaufbewerb handelt. “6500 Höhenmeter” steht da. Wehe, das stimmt.
Vom Schneeberggipfel sprinte ich nach Dienten. Endlich eine kurze Pause mit meinen Liebsten, das spornt mich an. “Da unten musst du durch die Parkgarage”, ruft mir ein Einheimischer zu. Der will mich doch verarschen. Wollte er nicht. Kommando retour, durch den kühlen Tunnel zu Kilometer 56. 8 Stunden und 28 Minuten sind vergangen.

In der Ruhe liegt die Kraft

Eine Backerbsensuppe, Cola, Wasser, ein paar Bussis und meine Stöcke. Dann geht es weiter Richtung Hundstein. Hundselendig, denke ich, als der Anstieg beginnt. Dog Days are coming.
Es dauert nicht lange und ich setze mich in den Schatten, nehme einen großen Schluck Wasser, drehe die Musik ab und komme zur Ruhe. Es wird diese Ruhe sein, die mir in den kommenden Stunden die Kraft für den Zieleinlauf gibt.
Wenige Augenblicke später werde ich eingeholt. Immer noch ein blödes Gefühl, auch wenn es noch 28 Kilometer sind. Wie Hummeln im Hintern. Pieks. Pieks. Pieks. Okay, ich steh schon auf.
Die erste Frau hat zu mir aufgeschlossen. Ich freue mich für Sigrid, und häng mich gleich an sie dran. Beneidenswert fit sieht sie aus- und reden kann sie auch noch, als wär sie nicht gerade durch die halbe Salzburger Bergwelt gelaufen. Da tu ich mir schon schwerer. Wir sind jetzt eine Dreiergruppe, denn Rene hat aufgeholt und gehört jetzt auch zu unserer Ultragang.
Fescher Hochkönig
Immer weiter, immer höher. Sapperlot, irgendwer hat die Markierungstafel umgedreht. Sigrids GPS lasst sich nicht täuschen, wir sind gleich wieder auf dem richtigen Weg. Dann werde ich langsamer. Wo die Beiden laufen, muss ich gehen. Ich drehe mich um. Hinter mir ist keiner. Kein Stress, wird ja eh gleich wieder laufen. Nein, es geht. Minutenlang geht es. Fast eine Viertelstunde lang geht es. Dann kann ich endlich wieder in den Laufschritt wechseln. Danke, Selena Gomez.
Freud und Leid, kurz vor dem Statzerhaus
Die nächste Labestelle: Statzerhaus. Haus, das klingt schön. Da ist sicher auch ein Bett drinnen und vielleicht eine Dusche, und.. “Gabriel, weißt du nicht, dass du laufen sollst? “Okay, Wille”…”Blödmann”.
11 Stunden und 32 Minuten hat es gedauert, bis ich das Statzerhaus erreicht habe. 4500 Höhenmeter sind seitdem vergangen. Einige Schneefelder, viele liebe Menschen und ein paar Berglein lagen dazwischen. Und ja, es macht trotz aller Entbehrungen immer noch Spaß.
Ein Berg noch. Ein allerletzter. Die Schwalbenwand. Was würde ich dafür geben, jetzt eine Schwalbe zu sein. Fliegen, statt laufen. Prächtige Flügel, statt geschundener Beine. Ach, komm. Das schaff’ ich jetzt auch noch.
Da ist ja eh schon das Gipfelkreuz, einmal am Grat entlang, rauf, runter, und da stehe ich schon auf der Schw….Schönwieskopf?
Fotografierst du mich?
Sieht ein bisschen aus wie Tanzen
Jetzt machst du dir aber einen gehörigen Spaß draus, Hochkönigman. Hört dieser Lauf denn niemals auf? Es geht noch einmal runter, und noch einmal hinauf. Ist das da vorn Markus? Warum läuft der in die falsche Richtung?
 
“Hey, super Gabriel. Du bist eh klass’ dabei. Da vorne geht’s nur noch bergab” Ich komme gar nicht dazu, ihn zu fragen, was er da macht. So ganz ohne Startnummer. Ich nicke, lächle und freue mich über die kurze Ablenkung.

Alleine gestartet, gemeinsam beendet

Und tatsächlich. 5020 Höhenmeter zeigt meine Uhr an. Das war’s. Kein Anstieg mehr. Doch das Ende ist noch nicht vorbei. Runter ins Tal, 9 Kilometer lang. Die letzte Labe. Ich schreibe noch einmal eine Nachricht. “Bin bei Kilometer 78. Mach noch kurz Pause”. “Wir klatschen dich ins Ziel”, kommt wenige Augenblicke zurück. Ich habe Tränen in den Augen. Ich schaff’ das hier wirklich. Ohne Krampf, ohne Verletzung, ohne, dass ich den Spaß daran verliere. Ein perfekter Tag. Noch ein kleiner Schluck vom Red Bull, und schon eile ich dem Ziel entgegen. Maria Alm, ich komme! Schon wieder.
Plötzlich läuft alles wie von selbst. Ich kann beschleunigen, wie es mir passt. 80, 81, 82 Kilometer. Jetzt könnens auch 1000 werden. Mir egal. Nur noch drei- das ist mir trotz der Euphorie lieber. Wer ist das da vorne schon wieder? Winkt und schreit wie verrückt. Hey, das ist ja Philipp. Das merke ich erst, als ich schon fast wieder vorbei bin. Mein Herz klopft. Weil ich gleich ins Ziel laufen werde und weil meine Freunde hier sind. Extra wegen dem, der hier so lange laufen muss, bis er sie nicht mehr erkennt.
Hey, ein Freund! 
Hinunter ins Ziel
Noch einen Kilometer. Der ganze Tag läuft noch einmal an mir vorbei. Der dunkle Wald, der dämmernde Hochkeil, die strahlende Sigrid, die bösartige Schwalbenwand, der grandiose Hochkönigman. Was für ein Lauf.
Ich schließe wieder zu Rene auf. Wir können uns jetzt ein Duell um Platz 23 liefern- oder wir laufen zusammen ins Ziel. “Ultra” heißt auch, in gemeinsamer Sache fanatisch zu sein. Keiner überlegt. Kurz vor dem Ziel nehmen wir uns an der Hand.
Die allerletzten Meter
Dann steigt weißer Rauch auf. Habemus Medaille. Effectum est! 13 Stunden und 56 Minuten nach dem Start in Maria Alm, komme ich genau dort wieder an. Mit mehr als nur einem Ultralauf in der Tasche. Mit Emotionen, die mit Worten genauso schwer zu beschreiben sind, wie die Sinnhaftigkeit eines 85-Kilometer-Laufes. “Sieger geben niemals auf,” steht auf dem Shirt, das ich bekomme. Dieser Lauf auch nicht. In meiner Erinnerung geht es jeden Tag weiter. Pflichtausrüstung: zwei dicke Lachfalten im Gesicht. Und die muss ich mir nicht ausborgen.
Weißer Rauch steigt auf

 

13 Stunden, 56 Minuten, Platz 23