Robert Riesinger wurde heuer 60 Jahre alt. Diese Zahl ist für ihn aber kein Grund, ruhiger zu werden. Ganz im Gegenteil. Vor dem Alter müsse man sich nicht fürchten, sagt er.

Ein Porträt von Gabriel Egger









Es ist noch dunkel, als Robert Riesinger sein Auto am Ostufer des Traunsees abstellt. Dort, wo es schon öfter den Sonnenaufgang erlebt hat, als er selbst. Denn zu diesem Zeitpunkt schlagen Roberts Schuhe schon auf den schroffen Felsen auf. Dann schwingt er sich über die Seilversicherungen, oder klemmt die Finger in einen Felsspalt, um sich hochzuziehen. Wenn die Sonne dann die ersten Strahlen in die Täler schickt, steht der rüstige Schwanenstädter schon über den Dingen. Hoch oben auf dem Traunstein, lässt es sich aushalten. Kein Wunder, dass er schon 452. Mal von dem 1.691 Meter hohen Berg hinunter nach Gmunden gegrüßt hat. 24 verschiedene Varianten hat er dabei ausprobiert. Einmal laufend, dann kletternd, wandernd oder im Schnee versinkend. Oft auch kriechend, um dem richtigen Pfad auf die Spur zu kommen. “Hat der nichts Anderes zu tun?” möge mancher meinen, der sich jeden Morgen ungustiös durch die Zettelwirtschaft des Vorabends kämpfen muss. Zu tun hat Robert eine ganze Menge, aber er ist dabei stets eines gewesen: ein rigoroser Gegner von Zeitverschwendung.

Aufgewachsen in einer Dorfmühle in Oberndorf bei Schwanenstadt übte er sich im Handfischen und machte bald so manchem Federvieh Konkurrenz: “Ich habe früh gelernt, Vogelstimmen zu imitieren. Die Vögel fliegen noch heute auf mich”, erzählt er. Genauso früh pfiff er auch auf Normen. Schon in seiner Jugend war er ebenso oft in heimischen Wäldern, wie in Diskotheken unterwegs. Zu einem seltsamen Vogel wurde er trotzdem nie. “Ich hab’ gern die Nacht zum Tag gemacht, aber vor allem habe ich mich in der Einsamkeit geborgen gefühlt”, erinnert er sich.  Alkohol und Zigaretten, die beinahe unumgänglichen Laster der Menschheit, konnten schnell zu Jugendsünden degradiert werden.

Mit der Natur verwachsen

Mit Sport hatte der heute 60-Jährige in seiner Jugend überhaupt nichts am Kapperl und kam doch früh damit in Berührung. “Mein Onkel Peppi war begnadeter Bergsteiger. Er versprühte immer ein Gefühl von Zufriedenheit. Ich wusste: dieses Leben ist erstrebenswert” erzählt Robert heute.

Doch bis er selbst ein solches Leben führen durfte, dauerte es noch. Nach dem Schulabschluss ging er als Techniker für Wasserkraftwerke auf Reisen. Nach Arbeitsaufträgen in Deutschland und Belgien  ließ er Europa hinter sich. Von 1988 bis 1992 lebte Riesinger in Pakistan und lernte ein anderes Leben kennen. Armut und Reichtum klafften dort auseinander, bildeten eine unüberwindbare Schlucht. Trotzdem traf er liebevolle Menschen, konnte die Herzlichkeit am eigenen Leib spüren.  “Das Land und seine Einwohner haben mich verändert. Seitdem weiß ich, dass Armut und Reichtum nichts mit Glück oder Unglück zu tun haben”, sagt er. Mit den Menschen sprach er, obwohl er ihrer Sprache nicht mächtig war. Zuviele Menschen würden sich die Türen selbst zuschlagen, weil sie Angst vor der Kommunikation hätten.

Schon beim obligatorischen Kaffee in den Morgenstunden erklingt aus dem Wohnzimmer ein helles “Bonjour”, bevor man zu Mittag bei der Penne all’ arrabbiata ein zufriedenes “Benissimo” vernimmt. Wenn nach der abendlichen Laufrunde im heimischen Pitzenberger Wald ein frisch gepflückter Parasol auf den Teller kommt, kann man dem alternden Jungspund schon ein “La vida es bella” entlocken. Man merkt, Robert Riesinger ernährt sich nicht nur gesund , sondern hat sich im Laufe der Jahre auch verschiedene Sprachen angeeignet. Weltsprachen wie Englisch und Spanisch spricht er fließend, Deutsch als Muttersprache sowieso. Auch in Italienisch und Französisch kann sich der 60-Jährige bestens unterhalten. “Zumindest Essen will ich in allen Ländern, die ich bereise, bestellen können” erklärt er. Und das sind nicht wenige. In 55 Länder führten Riesingers Reisen, 40 davon rein beruflich.

Bolivien, ein weißer Traum

Das Bergsteigen hat ihn erst mit 30 in seinen Bann gezogen. Zuerst waren Hausbau, Ehe und Nachwuchs bestimmend, im abwechslungsreichen Leben des Oberösterreichers. Vor 33 Jahren heiratete er seine Frau Renate, zuvor erblickten Diana (34) und Robert (33) das Licht der Welt. Nachzüglerin Sophie feierte heuer ihren 16. Geburtstag. Ein typischer Familienmensch war Robert nie.“Ich musste mir die Zeit schon immer einteilen. Für große Feiern und ewig langes Herumsitzen war einfach kein Spielraum” sagt er. Anders sei er , mit allen Vor-und Nachteilen. In der Erziehung setze er vor allem auf Eigenständigkeit.

Der Huayna Potosi in Bolivien

Eigenständig war auch sein Zugang zu den Bergen. Der Traunsteingipfel, als willkommener Rückzugsort, war nur der Ausgangspunkt für einen langen Weg, durch die Täler und über die Berge der Welt. Schnell folgten Dachstein, Großvenediger und Großglockner, bevor sich der spätberufene Alpinist in Bolivien langgehegte Wünsche erfüllte. Doch  mit derselben Leichtigkeit wie er über den Stüdlgrat geklettert war, oder die Spalten am Venediger umgangen hatte, war es in Südamerika nicht mehr getan.

Der Huayna Potosi sollte Riesingers erster Sechstausender werden. Als Tagestour, ausgestattet mit Blue Jeans, alten Steigeisen und jeder Menge Mut.  Von La Paz aus, dem höchstgelegenen Regierungssitz der Erde, fuhr er 25 Kilometer nach Norden in die Cordillera Real, einem Faltengebirge in den Anden. Vor ihm erhob sich ein 6.088 Meter hohes Kunstwerk aus Schnee und Eis. Gletscherzungen, eintausend Meter lang, erstrecken sich herab vom  bemerkenswerten Gipfelgrat und der Blick reicht bis zum Titicaca-See. Junger Berg, nennen ihn die Einheimischen. 42 Jahre jung war der Mann, der danach trachtete ihn zu besteigen. “Es war als Tagestour geplant und wir konnten uns deshalb nicht lange aufhalten” erzählt Riesinger. Der Potosi ist kein allzu schwieriger Berg, wird aber dennoch oft unterschätzt. Die einzige Gemeinsamkeit mit dem heimatlichen Traunstein. Ansonsten erwartete ihn viel Neues, viel Unvorhersehbares.

Der Illimani

Vor der 70 Grad steilen Schlusswand, die direkt auf den ausgesetzten Grat führt, war für seinen Begleiter Schluss. “Ich hab gleich gemerkt, dass das nichts mehr wird. Jetzt musste ich mich entscheiden: allein hoch, oder abbrechen”. Riesingers Steigeisen bohrten sich in das ewige Eis.  Erst später  wird er bemerken, dass sie nicht die richtige Größe haben, immer wieder von seinen Schuhen rutschen. Alles war vereist, der Halt nur schwer zu finden. Die einzige Konstante der Sturschädel, in dem sich der Drang nach oben manifestiert hatte.

Der Atem wurde schnell, die Temperaturen und der Sauerstoffgehalt verließen Hand-in-Hand die erträglichen Grenzen. Riesinger schlug sich mit dem Pickel Stufen, gelangte rasch zum Grat. Trotz fantastischer Fernsicht, war es nicht sein schönstes Gipfelerlebnis. “Ich kann mich nicht erinnern, auf einem Gipfel je eine solche Unsicherheit verspürt zu haben “ schildert er die Minuten der aufkommenden Verzweiflung. Schon beim Aufstieg, konnten sich die Steigeisen nicht wirklich als hilfreiche Begleiter in die Geschichte einfügen. Beim Abstieg, war es nur der Pickel, der Riesinger an der Wand hielt. “Der Aufstiegsweg war viel zu vereist, ich hab es dann einige Meter daneben versucht. Auf die Füße konnte ich mich nicht mehr verlassen” erzählt der Abenteurer.

Mit Demut blickte er, zurückgekehrt auf sicheren Boden, hinauf zum Gipfel. Es ist jene Art, mit der Riesinger noch heute den Bergen entgegentritt. “Bergsteigen, das ist Leben. Kein anderer Sport verbindet menschliche Eigenschaften derart mit der Wildnis der Natur” sagt er. “Du kannst noch so starrsinnig sein, dem Berg bist du nie voraus.”

Seinen Aufenthalt in Südamerika krönte er mit dem Gipfelerlebnis am Illimani, dem zweithöchsten Berg Boliviens. 1985 zerschellte dort ein Passagierflugzeug, niemand der 29 Insassen überlebte. Bis heute konnte keine der Leichen gefunden werden. “Es sind immer die Geschichten, die die Berge ausmachen. Die, die du persönlich schreibst, oder die, die erzählt werden. Mir ist es wichtig, nicht nur die Wand, den Fels, die äußere Hülle zu kennen, sondern auch das Innenleben” erklärt Robert. 1997 durfte er einen kleinen Eintrag im Geschichtsbuch des 6.439 Meter hohen Berges vornehmen.

 

Rekord am ersten Tag der letzten Tage

Riesinger beim Bergmarathon

Robert war nie ein Mensch, der sich mit einer geraden Linie begnügte. Geradlinigkeit in Arbeit und Charakter, Sinuskurven im Sport. Und auf dem Popo saß er ohnehin ganz selten, und wenn dann nur auf dem mexikanischen Catepetl (5462m) .Das Bergsteigen wurde bald um eine Komponente reicher: das Steigen wurde durch Laufen ergänzt.

“Ich hab von einem Bergmarathon rund um den Traunsee gehört. Da konnt ich nicht Nein sagen. Das ist ja schließlich mein Trainingsgebiet” erzählt er. Mit 47 Jahren stand er zum ersten Mal am Start in Gmunden um die 70 Kilometer und 4.500 Höhenmeter zu absolvieren. 12 Stunden und 13 Minuten später, fand er sich wieder dort ein. Es ist bis heute seine “schlechteste” Zeit. Letztes Jahr wurde er in den Golden Club aufgenommen, feierte zehnjähriges Jubiläum. Es folgten Straßenmarathons, Bergläufe und ein Wunsch: einmal beim Ultra Trail du Mont Blanc das Ziel vor Augen zu haben. Ein Bergmarathon über 170 Kilometer, der auch den hartgesottensten Ausdauersportlern die Tränen in die Augen drückt.

Riesinger wurde sein Leben lang von einem Phänomen begleitet: Er legte im Alter stetig zu, verlor kaum an Kraft und Ausdauer.“Ein Leben in älteren Tagen, kann nur Spaß machen, wenn dafür in jüngeren Jahren vorgesorgt wird. Bewegung, Sport und eine gesunde, natürliche Ernährung sind die Eckpfeiler” 

Bevor Riesinger um den Mont Blanc lief, bestieg er ihn aber. Es waren die Jahre, der klassischen europäischen Berge, garniert mit südamerikanischen Prachtexemplaren: Matterhorn (4478m), Dent Blanche (4357m) Aconcagua (.6962m. )Eine exotische Mischung. In Peru bestieg er den Chachani (6075m), in Kirgistan den den Pik Chapaev (6120m) und Japan’s Fuyijama (3770m) war vor der Abenteuerlust des Schwanenstädters ebenso nicht sicher.

Mit Machete zum Erfolg

In Trinidad und Tobago schmückte Riesinger sein Tourenbuch wohl mit  einer der ungewöhnlichsten Unternehmungen. Statt Felsen gab es dort Regenwald, statt Pickel eine Machete. Der höchste Berg des Inselstaats, der Cerro del Aripo, ist nur 940 Meter hoch und besteht zur Gänze aus dichtem Geäst. Damit sind Gipfelerfolge oft nur Schlangen und anderen Reptilien vorbehalten.

“Nicht mit mir” dachte sich der damals 50-Jährige und lieh sich kurzerhand eine Machete. Riesinger schlug sich buchstäblich durch und stand am höchsten Punkt der Insel. Der Ausblick war weniger berauschend, umso mehr das Gefühl es geschafft zu haben. “Alle haben mir gesagt, dass ich da nicht durchkomme. Ich wollt’s trotzdem wissen”. Gewusst hat er dort auch, wo es lang geht. Eine Gruppe von Einheimischen hatte sich verirrt, Riesinger spielte kurzerhand den Fremdenführer: “The white guy shows us our country, haben sie immer gesagt und gelacht. Das war eine Begegnung, die ich nie vergessen werde”. erzählt er.

Als es 2011 endlich soweit sein sollte, flogen Riesinger und sein Laufkollege durch das Auswahlverfahren des Ultra Trail du Mont Blanc. Für Robert keine Enttäuschung, sondern eine Option. Der Tor des Geants in  Courmayeur ,in den italienischen Alpen, wurde als Ersatz auserkoren und schließlich zu einem Meilenstein in Riesingers Leben.


“Abbiamo iniziato la prima giornata della ultima giornata“ rief der Veranstalter aus.  Der erste Tag der letzten Tage hatte begonnen. 28 Bergpässe, 24.000 Höhenmeter und 332 Kilometer erwarteten den 56-Jährigen. Riesinger lief fünf Tage lang. 116 Stunden und 31 Minuten. Seine Begleiter waren die Dunkelheit, Kaffee und ein unbändiger Wille. 18 Stunden Schlaf gönnte er seinem Körper. 300 Starter schaffen es ins Ziel. Riesinger lief nicht zur zum 54.Platz, sondern auch zu einem österreichischen Rekord, der bis heute unerreicht blieb. “Beim Zieleinlauf glaubst du, dich kann nichts mehr aufhalten. Ich weiß seit diesem Erlebnis, dass ich alles schaffen kann, wenn ich nur will” sagt er. Wille, das sei auch das, was der Mensch braucht. Um etwas zu erreichen, müsse man etwas tun. Von allein regle sich nichts.

Alter schützt vor Torheit nicht

Robert lugt über den Rand seiner Brille, eines der wenigen Utensilien, die ihm das Alter vorschreiben. Sein Haarwuchs ist spärlich, seine Erzählfreude unbändig. Das Kapperl tief im Gesicht, sein “Bergmarathon”-Leibchen unterstützt visuell seine Geschichten.

Robert spricht mit Gabriel über sein Leben

Ich sitze mit ihm an einem seiner Lieblingsplätze, auf der Gmundner Hütte am Traunstein. Nicht, weil er gern auf Hütten sitzt, sondern weil er sie öfter sieht, als manche Großstadt. Seine Erlebnisse könnten ganze Bücher füllen, es ist unmöglich sie schön handlich für Jedermann zu verpacken.

Drei Stunden sitzen wir schon hier, aber ein Ende ist noch nicht in Sicht. Alleine das letzte halbe Jahr, war voll mit Erlebnissen. Er hat es arbeitend in Spanien verbracht. Seine Freizeit füllte er mit Bergläufen, stand in Asturien auf dem bedeutendsten Berg der Picos de Europa, dem 2.518 Meter hohen “Naranjo de Bulnes”.

Robert spricht laut, bindet immer wieder andere Wanderer in die Gespräche ein. Dass er kein Kind von Traurigkeit ist, sieht man ihm schon an der Nasenspitze an. Doch es gibt auch eine andere Seite, die ihn zur Ruhe kommen lässt. Dann, wenn er sich der Philosophie widmet. Verstehen könne er nicht, warum sich die Welt so ignorant benimmt. “Wer ständig nur auf sich und seine Kultur schaut, verliert den Überblick” sagt er. Man könne so viel voneinander lernen.

Naranjo de Bulnes (Normalweg  V-)

Müde ist Robert noch lange nicht. Er will weiter seiner Arbeit nachgehen, nur ein bisschen mehr Zeit für die Familie, das müsse sein. In seiner Pension wolle er Kolumbien und Indien bereisen, exotisches Curry verspeisen und Gipfel besteigen. Auch über die Berge im Himalaya denkt er nach: “Natürlich wäre es schön, einmal auf einem Achttausender zu stehen. Aber das sind derweil nur Wunschträume” Alter schützt eben vor Torheit nicht. Vor allem wolle er aber eines: die Jugend animieren, weiter als bis zum nächsten Bildschirm zu denken. “Vor dem Alter muss man sich nicht fürchten. Außer du hast dich dein ganzes Leben lang zerstört”.

Roberts Lebensweg ist wie ein Bild, ein Kunstwerk, zusammengesetzt aus lauter verschiedenen Gemälden, die doch irgendwie zu einem einheitlichen Mosaik verschmelzen. Der Kern ist das Alter. Ein spätberufener Abenteurer, der sich erst spät dazu berufen fühlen wird, sich zur Ruhe zu setzen. Nur keine Scheu haben, sich mit allen Dingen zu beschäftigen, die einem den Weg kreuzen. Das ist sie, die Kunst des Alterns.

Robert trinkt seinen Kaffee aus, verabschiedet sich und läuft im Galopp den Traunstein hinunter. Seine Jacke erinnert an Flash, den roten Blitz. Nur keine Zeit verlieren, es gibt noch so viel zu entdecken.