Wo man selbst im Hochsommer nicht an Mütze und Fäustling vorbeikommt, dort spiegelt sich im formschönen Almsee der wild zerklüftete Hetzaukamm.

Seiner Überschreitung mangelt es an Wegen, nicht aber an Abenteuern.

Von Gabriel Egger



Er surrt, lässt sich lautstark von der einen Seite des Kopfes auf die andere gleiten, wendet, visiert zielstrebig das Augenlid an, weicht der großen Hand aus, die verzweifelt nach ihm schlägt und sticht zu. Sie nannten ihn Mücke. Und er ist lästig.

So lästig, dass wir den intimsten Moment am Almsee verpassen. Wenn die aufgehende Sonne, wenige Kilometer vom oberösterreichischen Grünau entfernt, zum ersten Mal die rauen Wangen des Zwölferkogels küsst und seine Wände  vor Aufregung rot anlaufen. Die Nebelschwaden des Vorabends haben sich verzogen, nasskalt löst sich der See von der nächtlichen Starre. In aller Früh gehört er den Kaulquappen, die pfeilschnell durch das Schilf flitzen.

Der Schlafsack ist nassgeschwitzt, als wir langsam aus seinem Inneren kriechen. Im knöchelhohen Gras, wenige Meter vom großen Parkplatz entfernt, haben wir mit den Mücken gekämpft- und verloren.

Der Blick voraus ist lange. Er reicht nicht, um über den gesamten Kamm zu sehen. 2500 Höhenmeter, knapp 30 Kilometer und sieben schwer zugängliche Gipfel liegen zwischen uns und dem Fußbad im lauwarmen Wasser am Ufer. Der Hetzaukamm ist im Gegensatz zur Traverse zwischen Kleinem und Großem Priel nahezu unbekannt. Kein Weg ist markiert, Steigspuren verlieren sich genauso schnell, wie Zeichen der Zivilisation.

“Aufwärmübung” in der Röll

Wo sich ausdauernde Wanderer für den Aufstieg zur Pühringerhütte bereit machen, traben wir im Aufwärmschritt auf die “Röll” zu. Enge, steile Schluchten durchreißen die ungangbaren Steilwände.Verhältnismäßig zahm ziehen sich die Wege über den Sepp-Huber-Steig und die Grieskarscharte ins pulsierende Herz des Toten Gebirges .

Wie spät es ist, wissen wir nicht. Wolken verdecken die Zeiger der Almtaler Sonnenuhr. Also doch auf die digitale schauen: sieben Uhr früh.

Zu dritt schlagen wir uns zur ersten Gabelung der Schotterstraße durch. Gabriel, mit einer Hose, der es egal ist, wenn sie von den scharfen Steinen des Hetzaukammes aufgerissen wird. Moritz, mit gestutzten Haaren und einer Kappe, mindestens genauso cool, wie die bevorstehende Bergfahrt. Und unser bester Freund Gisbert Rabeder. Der ist zwar nicht persönlich anwesend, aber sein Tourenführer “Totes Gebirge” wird uns heute den Weg weisen.

Blick über das Waldmeer, hinein in die Röll

Das tapfere Schneider(berg)lein

Nach der Linkskurve der Schotterstraße, führt ein enger Pfad ebenso links hinauf zum Wandfuß. Zuerst tropisch grün, später felsig und karg. Der Schneiderberggraben ist anstrengend. Serpentine um Serpentine steigen wir höher, sehen das Rotgschirr, unseren letzten Gipfel des Tages, faul im Licht der Sonne baden.

Der Ausblick vom Schneiderberggraben auf die zerfurchten Wände

Die Mücken haben uns nicht nur Blut, sondern auch einiges an Schlaf geraubt. Lautes Gähnen begleitet uns durch den Föhrenwald. 1017 Meter, die Schneiderberghütte ist erreicht.

 

Speisekarte gibt es hier keine. Die Hütte  kann nur Einsamkeit anbieten. 

Der kurzen Pause folgt eine Grasflanke nach der anderen. Queren, hochsteigen, absteigen, an der Wurzel nach oben ziehen. Nur einzelne Steinmänner erinnern an die menschliche Übernahme dieses Berges, der sich bislang heldenhaft gegen  den Ansturm gewehrt hat. Tapferes Schneider(berg)lein.

Auf dem Gipfel des Schneiderbergs (1324m)

Zwei Hügel, die wir fluchend für den Schneiderberg halten, später, stehen wir auf dem Gipfel. Ein hölzernes Kreuz, eine Gipfelschatulle, und viel Wald.

Wir halten uns nicht lange auf, denn jetzt geht es erst richtig los. Für die Benennung des nächsten Gipfels dürften wohl nicht viele Gedanken verschwendet worden sein. Ein Rundumblick reichte:  Viele Föhren, ein tiefer Graben und ein Eck, das aus dem langgezogenen Grat hervorlugt. “Dann nennen wir es doch Föhrengrabeneck”. Taufe auf den ersten Blick.

Der weitere Wegverlauf

Einfacher Name, schwierige Wegfindung. Die Steinmänner haben die Flucht ergriffen und auch Steigspuren sind nicht mehr überall zu finden. Und zum ersten Mal brauchen wir auch die Hände. Abschüssiges Gelände, in dem sich auch fliegende Steine wohlfühlen.

Aufstieg Richtung Föhrengrabeneck
Abschüssig, grasig und teils völlig unberührt

Waren auf dem Schneiderberg schon vergleichsmäßig wenige Wanderer, hat das Föhrengrabeneck die Vorhänge noch einmal dichter zugezogen. Nur wenige Namen finden sich auf den vergilbten Seiten des Buches, das in einer länglichen Dose hier seit mehr als 15 Jahren aufbewahrt wird.

Am Gipfel des Föhrengrabenecks (1661m) taucht zum ersten Mal der Fäustling auf

Dann taucht er endlich auf. Ein Daumen, der sich ganz von selbst streckt. Auch drücken muss man ihn nicht, um Interesse zu zeigen. Gefällt mir!  Der Fäustling, unter Einheimischen auch Edlakogel genannt, ist die schönste Gestalt des Hetzaukammes und gleichzeitig sein wilder Beginn.

Zuerst müssen wir uns aber über einen Latschengrat zum Einstieg kämpfen. Ohrfeigen für die kalten Wangerl sind da keine Seltenheit.

Nordwandgeflüster

 

Dem Fäustling entgegen

Der Fäustling hat trotz seines wärmenden Namens eine abweisende kalte Nordwand. Durch sie führt unser Weg auf den Gipfel. Wer nicht will, dass ihm gleich eingeheizt wird, kann den Berg umrunden.

Die (ungefähre) Route durch die Fäustling-Nordwand. Sie erreicht kurz den III. Schwierigkeitsgrad

Bis zum Kamin, der uns mit Armkraft direkt in die Nordwand bringt, sind unangenehme Schotterfelder zu queren. Eine Gams müsste man sein. Sie  beugt den Kopf nach links, dann nach rechts und zischt eilig davon.

Moritz steigt ihr nach, lässt sich am ersten Absatz nieder und blickt mir enttäuscht in die Augen: “Mann hey, das ist ja markiert”.

Die blauen Punkte, die hier einst hell leuchtend durch die dunkle Wand geführt hatten, sind mittlerweile aber verwittert. Man sieht sie erst, wenn man direkt davor steht. Es wird also doch wieder spannend. Und ausgesetzt. Besser nicht zu viel runterschauen. Der Weg folgt dem geringsten Widerstand. Meist im zweiten, manchmal im dritten Schwierigkeitsgrad.

Einstieg in die Fäustling-Nordwand
Dass sich Frösche sogar hier hinauf verirren? 

Der Spaß ist kurz. Nach einer halben Stunde stehen wir auf dem ersten Gipfel des Hetzaukammes. 1919 Meter hoch, keine Menschenseele. Die Wolken drehen sich um die Berge, senken sich, steigen wieder, bringen frischen Wind mit in die Flanken.

Auf dem Gipfel des Fäustlings
Der weitere Verlauf des Hetzaukammes

Nun wird es wieder einfacher. Ein grasiger Rücken lädt zum Verweilen ein, umständliche Stellen werden im leichten Gelände umgangen. Bis sich die Pyramide des Almtals vor uns aufbaut.

Entspannung im einfachen Gelände 

Obelix war auch hier zu forsch und hat bei einer Klettertour ein Stück der Fassade abgebrochen. Der Gipfel des Pyramidenkogels ist nun entweder einfach von der Rückseite oder schwerer durch einen markanten Riss zu erreichen. Den dritten Schwierigkeitsgrad sollte man kurz, aber sicher beherrschen.

Der Reiz des Spreizschrittes: Kurz, aber knackig geht es im III. Schwierigkeitsgrad aufwärts

Eilig spreize ich die Beine, ziehe mich nach oben und wiederhole das lustige Schauspiel. In den  Zaubertrankkessel sollte man hier nicht gefallen sein, denn im Kamin ist nur Platz für eine Bohnenstange.

Lieber Asterix, als Obelix 

1961 Meter hoch ist der Pyramidenkogel. Sein Kreuz alt und gebrechlich, jede Seite abweisend und schroff. Ein guter Platz zum Nachdenken und Loslassen. Nur bloß nicht Hände und Füße gleichzeitig.

Auf dem Pyramidenkogel 

Der Hetzaukamm lässt den Begeher oft durchschnaufen, zieht die Zügel aber schnell wieder mächtig an. Und wehe, man spurt dann nicht. Einmal süß, einmal sauer. Wie die Ente, die dort seit Jahrzehnten festsitzt.

Die Ente im Hetzaukamm

Immer ein Ausweg

Ein kurzer Reitergrat, breite Wiesenflächen und scharfkantige Steine. Der Blick schweift weit hinaus ins Alpenvorland, oder kurz hinunter zum Almsee und dem geschäftigen Ausflugstreiben. Dann stehen wir an. Nicht in einer Schlange, sondern vor dem Abgrund. Rien ne va plus.

Erreicht man diesen Punkt- und das passiert auf dem Hetzaukamm recht schnell- ist es ratsam, die Augen weit offen zu halten. Denn irgendwo findet sich immer ein Weg, der sich intelligent am Abgrund vorbeischummelt. Etwas ausgesetzt klettern wir auf ein breites Band, das uns in die Scharte unterhalb der Jakobinermütze leitet.

Ein schöner Ausblick zur Jakobinermütze. Von ihr trennt uns aber eine tiefe Schlucht. 
Abstieg über ein breites Band
Alles wieder gut! Im Hintergrund (ganz rechts) das Band, das wir abgestiegen sind

Die Jakobinermütze ist explosiv. Zumindest ihr Zweitname: Pulverhörndl. Ganz besonders gefährlich wird es, wenn man vor dem Pulverhörndl über die Zweitausender des Toten Gebirges spricht. Da wird das Horn schnell mürrisch, denn ihm selbst fehlen drei Meter.

Wir schaffen es trotzdem auf den 1997 Meter hohen Gipfel. Ein ausgesetztes Band, das mit einem Seil gesichert ist, führt uns auf die Rückseite des Berges. Die Zeit eilt nicht, bislang liegen wir trotz des späten Aufbruchs im Soll.

Das Pulverhörndl wird von der Ostseite aus erstiegen. Der Abstieg folgt auf der Westseite

Es vergehen einige Minuten, bis wir das richtige Band erwischen, das uns über die Westseite zurück auf den Hetzaukamm bringt. Und dann stehen wir bereits vor dem nächsten Problem. Links vom Fels?: nein. Vielleicht rechts vom Fels?: nein. Wieder zurück?: aber ganz sicher nicht. Na, was dann?

Ein großer Felsblock versperrt uns zwischen Pulverhörndl und dem Westlichen Hochplattenkogel den Weg und dient gleichzeitig als Steinmann. Hier könnten wir entweder 20 Meter abseilen- hätten wir eins mit, versteht sich. Oder wir steigen weitere 20 Meter ab und wursteln uns durch senkrechte Latschen nach unten. Na dann, auf geht’s.

“Au, Aaah. So ein…Au..”Mist”. Das gelbe Shirt, das ab und an durch die dunkelgrünen Latschen blitzt, sind neben der Fluchtirade, die einzigen Lebenszeichen, die ich in den nächsten zehn Minuten von Moritz erhalte. Dann probiere ich es selbst. Und man muss den Bergkiefern vertrauen, will man hier runter. Abseilen mit und nicht in der Natur.

Weglos im weglosen Gelände

Puh. Wieder sicheren Schotter unter den Füßen. Zielstrebig wenden wir uns in der Scharte nach links, obwohl es rechts deutlich einfacher wäre. “Aber da ist ja ein Weg ausgetreten”. Auch Gämse haben Füße. Ob wir uns das merken?

Dann plötzlich ist da jemand. Mitten im abschüssigen Gelände unterhalb des Plattenkogels, am Ende einer völlig einsamen Überschreitung. Auch er hat sich verstiegen. Während wir bei einer Steilwand aufgeben und umkehren, klettert Martin zielstrebig ab. Der 53-Jährige aus Haid bei Ansfelden hat schon Schlimmeres gesehen.

Kein Wunder, sein Ziel ist es schließlich, alle Berge Österreichs zu besteigen. Auf seine Art. “Ein Berg gilt bei mir erst ab 999 Metern Höhe als Berg. Zudem müssen zwischen den Gipfeln 60 Höhenmeter zu absolvieren sein, dass ich ihn auf meine Liste setze”, wird uns Siegl später  die vertikalen Spielregeln erklären. Seilbahn, E-Bike und Auto sind beim Anstieg verboten. “Das Mountainbike darf ich verwenden. Was zählt, ist die eigene Muskelkraft.”

Unsere Muskelkraft muss noch reichen, um den Westlichen Hochplattenkogel von der Ostseite zu erreichen.  Moritz steigt über eine Wand vor, ich klettere behutsam nach. Eine Kreuzung aus Affe und Wiesel bahnt sich da vor mir den Weg durch die Vertikale. Das gibt es wohl auch nur am Hetzaukamm. Ein bisschen Zittern, ein kurzer Blick in die Unterhose, ob auch noch alles sauber ist und es ist geschafft.

Also: Westlicher Hochplattenkogel, 2073 Meter, vorher noch nie gehört. Aber wir stehen gerade oben! Und auch der Blick zu unserem Ziel, dem Rotgschirr wird frei.

Rotgschirr, Ende einer langen Reise

Der Weiterweg zum Rotgschirr ist der mühsamste Teil der gesamten Tour. Eine Steinwüste, unterbrochen von Schneefeldern, kein Weg, der sich erahnen lässt und die stetig steigende Müdigkeit in den Beinen.

Wir erreichen den Ansatz des Ostgrates, setzen uns kurz ins spärlich vorhandene Gras und ich stelle meine übliche rhetorische Frage: “Cool, oder?” Dann sind wir schon auf dem mächtigen Plattengrat unterwegs.

Der Grat über den Gipfel zum bekreuzten Nebengipfel des Rotgschirrs 
Eine kurze plattige Stelle im II. Schwierigkeitsgrad trennt den Begeher schließlich vom Gipfelkreuz

Auf dem Rotgschirr ist man schon gestanden, wenn man das hölzerne Gipfelkreuz erreicht. Der höchste Punkt befindet sich mitten auf dem Grat, ist völlig unscheinbar, aber für Wanderer nicht so leicht zu erreichen.  Der Weg dorthin ist aber einmalig: Wunderbare, riesige Platten, auf denen man sogar laufen kann, die sich manchmal bedrohlich in den Weg stellen, um ihn schließlich ganz sanftmütig freizugeben. Eine kurze, schwierigere Stelle und dann das große Finale der Überschreitung: Über sieben Gipfel musst du gehen, um hier zu stehen.

Ende gut, alles gut! Auf dem (Neben-)Gipfel des Rotgschirrs 

Lange Pause, lange Freude. Dann steigen wir wild über die Westseite ab, kommen (hach, was für eine Überraschung) vom Weg ab, verlieren die Steinmänner und fluchen uns durch das Gestrüpp hinunter zum Röllsattel. Wir haben uns eine Kürzung versprochen und eine Erhöhung bekommen. Schade, dass es um Zeit und nicht um Geld geht.

Blick zum Elm (links) und zum gleichnamigen See (Mitte)

Aber weil ja Zeit bekanntlich Geld ist, eilen wir im Laufschritt über den Sepp-Huber-Steig nach unten. Neun Stunden sind seit unserem Start vergangen, als wir wieder im Tal ankommen. “Die Röll ist so langweilig, laufen wir raus”, sagt Moritz und blinzelt schmunzelnd in meine Richtung. “Nein, sicher nicht”, denke ich, “Ja, sicher”, sage ich.

Auf dem Weg hinaus, aus der Röll, schweift mein Blick oft hinüber zu den zerklüfteten Wänden und bedrohlichen Zacken des Hetzaukammes. Da sind wir gerade rüber. Da rauf, dort hinunter, über diese Felsen geklettert und diese Blöcke umgangen.

Konzentration. Ich muss laufen. Zu spät. Ich stolpere über eine Wurzel, versuche mich mit beiden Händen abzustützen, lande auf der Erde und meine Trinkflasche auf meinem Hinterkopf.
Das ist eben kein Kamm zum Hetzen.